Sie stehen am Eingang der Ausstellung und begrüßen den Besucher: Donatellos Figuren „Der Heilige Georg“ und sein „David“. Der heilige Georg (Abguss, das Original aus Marmor um 1415-17), fest mit beiden Beinen auf der Plinthe stehend (das Original zeigt die Figur mit Sockel und in einer Nischenarchitektur), ist mit einer antikisierenden Rüstung und einem Mantel versehen, er hält ein schmales Schild vor sich und hat den Blick in die Ferne gerichtet. Obwohl er als Schutzpatron der Waffenschmiede und Schwertmacher galt, dominiert hier nicht das Militärische, sondern die gespannte Haltung, die nach außen gerichteten Sinne eines jungen Mannes, der weiß, was er will.
Ihm gegenüber erhebt sich die jugendliche Gestalt des „David“ (Abguss, das Original aus Bronze entstand um 1444-46, also drei Jahrzehnte später), nackt, nur mit einem Hut und mit Lederstrümpfen und Sandalen bekleidet, ein Stein in der einen und ein Schwert in der anderen Hand, zu seinen Füßen das Haupt Goliaths. Nicht so sehr das kriegerische Wesen wird betont, sondern die Anmut und Schönheit des Jünglings besticht, ja man kann fast von einer gewissen Verliebtheit in sich selbst sprechen. Die freie, anmutige Haltung und der verhaltene Ausdruck, die ausgewogene Ponderation und Proportionierung der Gestalt bringen etwas ganz Neues in das christlich besetzte Thema ein. Donatello psychologisierte die Erscheinung der Schönheit für den Betrachter, dem das in sich ruhende Lächeln des Knaben viel abgründiger erscheint als etwa eine Geste des Entsetzens.
Zwei Figuren, die nicht nur die Breite und Vielfalt Donatellos, seines Gestalten- und Formenrepertoires andeuten, sondern auch einen neuen Kanon in der Kunst anzeigen: der Hl. Georg als in sich geschlossene Figur, die ein Ziel in der Ferne anvisiert und so vor sich einen unbegrenzten Raum eröffnet, in den der Betrachter sich einzuordnen hat, und David als erste, annähernd lebensgroße freistehende Aktstatue, eine Figur von ungeheurer Diesseitsbejahung. Zweierlei ist hier im Spiel: Die inneren Kräfte in den Figuren – und zugleich erscheinen sie so, als würden sie von dem sie umgebenden Raum Besitz ergreifen, so dass sie damit auch in ein anderes und unmittelbareres Verhältnis zum Betrachter treten.
Das Berliner Bode-Museum besitzt in seiner bedeutenden Skulpturensammlung der italienischen Renaissance auch Schlüsselwerke von Donatello. Aber auch Gipsabgüsse wie die des Hl. Georg und David, die die ungebrochene Wirkkraft der Skulptur über die Jahrhunderte hinweg bezeugen. In einer einzigartigen Partnerschaft mit der Fondazione Palazzo Strozzi und dem Museo Nazionale del Bargello in Florenz sowie dem Victoria and Albert Museum in London zeigen die Staatlichen Museen zu Berlin erstmals in Berlin und überhaupt im deutschsprachigen Raum die große Donatello-Retrospektive, die schon in Florenz zu sehen war und dann 2023 nach London weitergehen wird. Man hat die große Wandelhalle der Berliner Gemäldegalerie in ein Refugium der italienischen Frührenaissance umgestaltet und präsentiert die Meisterwerke Donatellos und deren Abgüsse zusammen mit Skulpturen und Gemälden seiner Zeitgenossen. So kann der Betrachter erfahren, von welchen Vorbildern Donatello lernte, welche Neuerungen er einführte, welche Wirkung er schon in seiner Zeit auf die Künstlerkollegen ausübte. Dabei muss man berücksichtigen, dass seine großen Statuen und Reliefs, die er für die Dombauhütte in Florenz, im Auftrag der Kirche, der Fürsten und Städte geschaffen hat, an ihren jeweiligen Standort gebunden sind, so dass sich die Museen neben den von ihnen erworbenen Originalwerken eben auch mit Repliken und Abgüssen begnügen müssen.
„Erfinder der Renaissance“ wird Donatello in der von Neville Rowley, einem ausgewiesenen Donatello-Spezialisten, hervorragend kuratierten Berliner Ausstellung genannt, zwar fehlt der bestimmte Artikel, aber in dieser Ausschließlichkeit mag eine solche Bezeichnung doch nicht ganz unumstritten sein. Auf jeden Fall war er der bedeutendste Bildhauer des Quattrocento, der in Stein, Ton, Bronze und Holz, aber auch in Glas, Stuck, Terrakotta und Mosaik seine Arbeiten schuf. Er hat Pionierarbeit geleistet auf dem Feld des Bronzegusses, auf dem bis dahin Lorenzo Ghiberti der unbestrittene Meister war. Auch das Flachrelief, das „rilievo schiacciato“, ist eine Erfindung von ihm. Er war überhaupt ein genialer Experimentator, ging nicht nur schöpferisch mit einer Vielzahl von Materialien um, sondern beherrschte eben auch ein breites Formenspektrum, wies der Perspektive neue Wege und entwickelte eine Stilsprache, die unmittelbar die Gefühle der Menschen ansprach.
Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, wuchs Donatello über alle herkömmlichen Formen, Techniken und Motive der Kunst hinaus, die er gelernt und durch die er sich entwickelt hatte. So wie seine Statuen sich allmählich aus den Wänden und Nischen der Kirche lösen und sich zusehends ihren eigenen freien Raum erobern, suchte er in seinem eigenwilligen Künstlerleben das Überlieferte hinter sich zu lassen. Zunächst hat er sich wohl als Goldschmied ausbilden lassen, ist aber dann in Florenz, aber auch anderenorts als Bildhauer von Statuen und Reliefs, Epitaphien und Grabmonumenten für Kirchen, Paläste und öffentliche Räume bekannt geworden.
Donatellos Figuren verlassen allmählich den kirchlichen Raum und begeben sich in das Diesseits einer eigenen irdischen Existenz, aus der Idealität in die Identität, auf der Suche nach dem Ausdruck eines unverwechselbaren Ich. Sie beginnen sich zugleich die eigene Körperlichkeit zu erobern. Einige seiner Propheten, so ist festgestellt worden, lösen sich sozusagen dramatisch-schmerzhaft aus den Hüllen ihrer Gewänder. Aber auch die Falten der Gewänder seiner Statuen können voll persönlichen Lebens sein. Andere Figuren treten in der ungezwungenen Nacktheit des Leibes vor uns. Das Individuelle durchdringt seine Gestalten, auf ihre psychologische Wirkung kam es Donatello an. Nicht nur in seinem „David“ zeigt sich Donatellos Einfluss auf Michelangelo, der seine eigene David-Version in Marmor schuf.
„Maria mit Kind (Pazzi-Madonna)“ (Marmor, um 1422) ist allein schon durch die Perspektivgebung ungewöhnlich: Beide – Maria und Kind in inniger Verbundenheit – scheinen dreidimensional und wie aus dem Grund des Reliefs – über den Rahmen hinaus – hervorzutreten. Und diese radikale Neuerung – die perspektivische Konstruktion – haben viele florentinische und toskanische Künstler bewundert und angeregt, auch auf der flachen Oberfläche eines Gemäldes die Tiefe des Raums illusionistisch zu gestalten.
Die Reliquienbüste des Heiligen Rosso (um 1422-25) war die erste, die – vergoldet und versilbert – aus Bronze gegossen wurde. Zudem begründet sie das Renaissanceporträt in skulpturaler Form. Sie ist so einfühlsam und ausdrucksstark, dass man glaubt, man habe eine lebende Person vor sich.
Donatellos geflügelte Putten, als Spiritelli (kleine Geister) bezeichnet, werden als Tanzende und Musizierende dargestellt. Es sind überhaupt die ersten Putten der Renaissance, die nicht mehr eine bestimmte dienende Funktion ausüben, sondern sich unbekümmert ihrer Freude am Spiel künstlerischer Phantasie hingeben. Der Berliner „Spiritello mit Tamburin“ (Bronze, 1421), von N. Rowley als „Meisterwerk des instabilen Gleichgewichts“ bezeichnet, scheint sich in sich selbst zu drehen und deutet damit eine Vorform der „figura serpentinata“ (einer gewundenen, „schlangenförmigen“ Form) an, wie sie dann für die Spätrenaissance und den Manierismus typisch wird.
Und was hat es mit „Amor – Attis“ (Bronze, um 1435-40) auf sich, dem lachenden Putto, dessen Haar von einer Kordel umschnürt ist und in antiker Weise einen spitzen Schopf über der Stirn bildet? Am Rücken wie an den Füßen ist er geflügelt, er hat ein Satyrschwänzchen und trägt eine mit Mohnkapseln verzierte Hose. Zu seinen Füßen ringelt sich eine Schlange, die ihm zu gehorchen scheint. Die Bedeutung dieser Figur, die die Arme zu einer geheimnisvollen Geste erhoben hat, ist ungewiss, ihr antikisierender Charakter, ihre heitere Ausstattung lässt sie wohl in die Nähe des David ansiedeln. Haben wir es hier vielleicht mit der Darstellung eines Genius loci – er fungierte in der römischen Mythologie als Schutzgeist – zu tun, wie auch schon gemutmaßt worden ist?
Ein ausgewogenes Gleichgewicht beherrscht die Figur des Gekreuzigten („Kruzifix“, Bronze, 1444-49) und verleiht ihr eine ungewöhnliche Schwerelosigkeit, wie sie bei anderen Kruzifixen des Quattrocento noch nicht aufzufinden war. Der Ausdruck von Erschöpfung und Tod ist ganz auf das geneigte Haupt und auf das Gesicht ausgerichtet.
Als Flachrelief ist „Das Eselswunder des Heiligen Antonius von Padua“ (Bronze, um 1446-49) ausgeführt. Drei riesige Bögen öffnen sich einer Menge gestikulierender, fasziniert beobachtender und im Gebet versunkener Menschen, während in der Mitte der Hl. Antonius am Altar die Hostie dem Maultier reicht. Figurenstil und Architekturdekor sind eng miteinander verbunden. Donatello setzte auch hier einen Tiefenraum im Halbrelief ein. Die Vielfalt im Erzählerischen und Gegenständlichen erfährt noch eine Steigerung, indem Vorder- wie Hintergrund durch Figuren belebt und die Haupthandlung durch kontrastierende Nebenepisoden ergänzt wird.
Von einer ungeheuren Realistik ist der monumentale „Pferdekopf (Protome Carafa)“ (Bronze, 1456), das Fragment eines Reiterdenkmals, das Donatello nicht mehr vollenden konnte. Er wurde seinerzeit sowohl von Winckelmann als auch von Goethe im Hof des Palazzo Carafa in Neapel bewundert.
Donatello soll seine Figuren zum Sprechen aufgefordert haben. Und tatsächlich: sie sprachen und sprechen auch heute immer noch zu uns.
Eine hochkarätige, aber auch emotional beeindruckende Schau, die wohl den diesjährigen Höhepunkt in dem doch so kunstverwöhnten Berlin darstellt.
Donatello – Erfinder der Renaissance. Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Kulturforum / Matthäikirchplatz, bis 8. 1. 2023. Katalog (Seemann Verlag Leipzig) 35 Euro (Museumsausgabe)