Porträtaufnahmen Rumäniens aus den Händen ausländischer Musiker erfrischen die Selbstwahrnehmung. Sobald man aus dem Klang von Saiten und Bogenhaaren heraushören kann, dass schöpferische Künstler nicht alleine aus einem bodenlosen Fass ungezählter Übungsstunden am Instrument trinken, sondern offensichtlich auch in uralten Schwarzweißfotos gestöbert und Buchdeckel angegilbter Belletristik von Spinnweben befreit haben, antwortet man augenblicklich gerne mit gebannter Neugierde auf wortlos sprechende Erzählungen. Unmengen kulturellen Perlenzaubers breiteten Violinist David Grimal (Frankreich) und Klavierbegleiter Grigor Asmaryan (Armenien und Deutschland) Mittwochabend, am 11. September, auf ihren Notenpulten im Thaliasaal in Hermannstadt/Sibiu aus.
Hélčne Jourdan-Morhange (1888-1961) trug Trauer nach den Geschehnissen an der Kriegsfront von Verdun, die ihren um acht Jahre älteren und hauptberuflich mahlenden Ehemann Jaques Jean Raoul Jourdan am 25. März 1916 auf dem Schlachtfeld ums Leben gebracht hatten. Der Verlust des Partners durch höhere, aber dennoch vom Menschen selbst initiierte Gewalt sollte nicht erster und letzter Rückschlag ihrer Biografie bleiben, da eine Arthritis sie noch vor Erreichen hoher Altersreife zum Karriereabbruch zwang. Maurice Ravel (1875-1937), ein Mann der verlorengegangen Idylle, witterte rechtzeitig Begabung und Vision der Violine spielenden Witwe und schenkte seiner bevorzugten Interpretin eine musikalische Ersatzheimat in Gestalt der ihr gewidmeten Sonate für Violine und Violoncello (1922) und der Sonate Nr.2 für Violine und Klavier (1927). Stücke, die das Leben unter Phantomschmerzen erleichtern wollten. Mitten in das letzte Zeitalter vor Einführung des Begriffs politischer Korrektheit fällt Ravels Rhapsodie „Tzigane“ für Solovioline und Orchester. Grigor Asmaryan und David Grimal nahmen den Klavierauszug zur Hand und boten mit größtmöglicher Selbstverständlichkeit eine frappierende Kostprobe perfekt aufeinander abgestimmten Zusammenspiels. Hohen Respekt verdienen beide Weltklasse-Kammermusiker, die ihre mit schwindelerregender Geschwindigkeit gepaarten Raffinessen nicht als Selbstbeweihräucherung entstellten. Eher stand das Programmstück für die Seele des waschechten Zigeuners ein, der im wirklichen Leben seiner Mitmenschen vielmehr als nur Komparse exotischer Zirkusnummern sein möchte.
Maurice Ravels zweite Violinsonate, seine von atemraubenden Flageolett-Passagen durchsetzte Rhapsodie mit der Spielangabe „Lento, quasi cadenza“ am Beginn des Violinparts sowie das in Klavierfassung aufgeführte und seinerzeit dem Belgier Eugčne Ysa˙e (1858-1931) zuerkannte Počme für Violine und Orchester op.25 von Ernest Chausson (1855-1899) wurden dem Publikum als schmackhafte Vorspeisen des lang erwarteten Hauptgangs deftiger Kost in der Sonate Nr.3 in a-Moll für Klavier und Violine op.25 „în caracter popular românesc“ (in völkisch-rumänischen Charakter) von George Enescu (1881-1955) aufgetischt. Lange Haltenoten am Schluss des Kopfsatzes, strikt „sempre non vibrato“ notiert, vor allem aber die Weite des mit Dämpfer und auf Abstrich zu spielenden Dreifachpiano im „Andante sostenuto e misterioso“ tönten wie leise aushauchendes Daumenkino, illustrierten in Zeitlupe die nach und nach rote Färbung der Ochsenherzen (Tomatensorte „inimă de bou“) auf trockenen Feldern unter der sengenden Sonne der Oltenia. Grigor Asmaryan und David Grimal krönten ihre Expedition mit dem finalen „Allegro con brio ma non troppo mosso“ und dem daraus winkenden Bild zweier Bauern in Tracht, die sich Festtags nach Gottesdienst und Mittagsschmaus einen Kurzen trinken und den Herrgott für ein paar Stunden einen guten Mann sein lassen. Die Stradivari Baujahr 1710 und der Originalbogen aus der Werkstatt des französischen Feinmechanikers François-Xavier Tourte (1747-1835) flossen gleich hochprozentigen Edeltropfen dahin, Grigor Asmaryans quirlige Wurstfinger mischten die nötige Würze knackiger Bissen hinzu.
Abends davor war das Instrumental- und Vokalensemble La Grande Chapelle des musikalischen Forschungsvereins Lauda Música Madrid in der römisch-katholischen Stadtpfarrkirche am Großen Ring/Pia]a Mare aufgetreten. Zwanzig Stücke geistlicher Musik der Renaissance nach dem österlichen Ritus der Confreria San Giacomo degli Spagnoli in Roma gaben Einblicke in den vormaligen Brauch auf der Piazza Navona, das Fest der Auferstehung mit Lauten, Bass-Viola da gamba, Dulzian, Rankett, Zinken, Trompeten, Posaunen und menschlichen Stimmen in abwechselnd italienischer und spanischer Sprache zu feiern. Dirigent Albert Recasens und vierundzwanzig teils singende, teils spielende Berufsmusiker und -musikerinnen boten ein 90 Minuten langes Programm und ließen dennoch keine stilistische Langeweile aufkommen, da die Besetzung und Kombination von Instrumenten und Gesang stets in der vollen Spannbreite von groß über mittel bis klein farblich geschickt variierte. Unnötig hingegen der Zugriff von Moderatorin Adina Zaharia Dombi, künstlerische Beirätin der Staatsphilharmonie Hermannstadt, das Konzert mit einer ausufernden Präsentation in bester Amtssprache nach sozialistischem Muster zu eröffnen, wo doch dieselben Informationen über das Profil der Madrider Gäste auch im Programmheft zu finden waren. Von Berufstätigen auch und vor allem in Rumänien, die der Millenials-Generation (Geburtenjahrgänge 1980-1994) angehören und im Kultursektor arbeiten, ist mehr Fingerspitzengefühl im öffentlichen Auftreten zu fordern.
Eines muss man der Gastgeberin jedoch lassen, da sie vor dem ersten Ton Musik um das Ausschalten der Mobiltelefone bat. Und es geschah, wie es kommen musste, da Adina Zaharia Dombi am letzten von acht Abenden der in Hermannstadt veranstalteten Konzertreihe des Internationalen George-Enescu-Festivals 2019 von zwei Personen vertreten wurde, die ebenfalls eine Konzerteinführung rekordverdächtiger Länge bestritten, leider aber den Hinweis störenden Handyklingelns vergaßen. Die international besetzte Kremerata Baltica hatte schon Platz auf der Bühne des Thaliasaals genommen. Als die überflüssigen Formalitäten um waren, setzte Violin-Ikone Gidon Kremer (Jahrgang 1947) zum leisen Auftakt des Concertino für Violine und Streichorchester op.42 (1948) von Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) an. Er nahm den Bogen hoch und – verflixt, da funkte das Geräusch dazwischen! Selbst der hochbetagten Zuhörerin, deren Konzertbesuch mit Nobelgewand und schillernd aufgetragenem Lippenstift wie aus einer anderen Zeit anmutet, ist so ein Filmriss nicht gestattet. Es gibt Dinge, die dürfen einfach nicht sein...
Gidon Kremer machte anstandslos weiter. Sein ohnehin kurzes Lächeln bei Begrüßung des Publikums ist dasjenige eines noch immer fähigen Interpreten im fortgeschrittenen Alter, der auf zeitgenössische Aufträge, statt welke Lorbeeren, der Lebensmitte schwört. Stärkster Punkt am Samstag, dem 14. September, war „Leaves leaving Leipzig“ (Von Leipzig abfallende Blätter) für Violine und Streicher von Gidon Kremers Landsmann Andris Dzenitis (Jahrgang 1978), der seinen inneren Zwiespalt von Freude und Traurigkeit im neuen Stück (Mai 2019) beschreibt. Was ihn persönlich umtreibt, gibt auch anderen zu denken: Leipzig als Geburtsort liberaler Demokratie 1989, Sachsen als Bühne rechtsextremen Gedankenguts 2019.
Zum Ausklang des Abends nach dem Intermezzo op.12 Nr.2 und dem Kurzstück Aria und Scherzino für Violine und Orchester von George Enescu, beides kunstvoll dirigiert von Fuad Ibrahimov (Aserbaidschan, Jahrgang 1982), und der schließenden Sinfonie Nr.10 von Weinberg reichte Gidon Kremer jedem einzelnen Mitglied der Kremerata Baltica reihum die Hand. Dem Publikum legte er „Oblivion“ von Astor Piazzolla (1921-1992) als Zugabe ans Herz. Gegen das Vergessen.