Wo und wie sie sterben wolle, fragt die Schauspielerin (Ursina Lardi) die eigentliche Protagonistin des Stücks (Helga Bedau), die im Video im Hintergrund der Bühne erscheint. Daheim, sagt die unheilbar an Krebs Erkrankte und wünscht sich für die Stunde ihres Todes den Sommer, Regen und Musik von Bach. Während das Bild der Frau immer kleiner wird und schließlich verschwindet, spielt die Schauspielerin auf dem Klavier die Bearbeitung eines Chorals und dünne Wasserschnüre fallen auf die Bühne. Darauf könnte das Blackout folgen, doch das Stück endet ohne Sentimentalität. Die Schauspielerin legt eine Kassette in einen Ghettoblaster und wir hören noch einmal die Stimme der 71-Jährigen: Sie erinnert sich an die 1968er Jahre in Berlin, wohin sie als junge Frau kam und blieb, an kleine, gemeinschaftliche Ladendiebstähle, an Feste und nächtelange Gespräche mit Freunden. „Doch, es war schön…“, sind die letzten Worte.
Wohl kein anderer als der Autor und Regisseur Milo Rau, der seit zwei Jahren das Theater im belgischen Gent leitet, hätte ausgerechnet bei den Salzburger Festspielen, die in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiern, mit der Uraufführung von „Everywoman“ eine Antwort auf „Jedermann“ gewagt. Denn Hugo von Hofmannsthals als Allegorie vom „Sterben eines reichen Mannes“ angelegtes Stück gilt trotz seiner rasselnden katholischen Moralpredigt – Jedermann findet angesichts seines bevorstehenden Todes Erlösung durch den Glauben und kehrt zu Gott zurück – als eines der Markenzeichen der Festspiele (ADZ vom 7.8.2020). Diesem Publikumsrenner, der jährlich mit viel Pomp vor der barocken Kulisse des mächtigen Doms geboten wird, stellt Rau „Everywoman“ gegenüber. Statt einer großen Show bietet er intimes, unspektakuläres Theater, folgerichtig in der Szene Salzburg, einem nüchternen, multifunktionalen Spielort der Stadt, die mit ihren zahlreichen hochkarätigen Kulturveranstaltungen seit Jahrzehnten die Festspielstadt Europas schlechthin ist.
Kein Beitrag zur Feminismus-Debatte
In seinen Stücken und Filmen befasste sich der Schweizer Rau unter anderem mit dem Völkermord in Ruanda, „Hate Radio“, dem Bürgerkrieg in Kongo und mit der Verurteilung und Erschießung des Diktatoren-Ehepaars Ceaușescu. Seine erste Saison in Gent eröffnete er mit einem Stück, das er mit Berufsschauspielern und Laiendarstellern zu den Figuren des Genter Altars der Brüder Van Eyck entwickelte. Mit „Everywoman“ liefert der engagierte politische Theatermacher jedoch keinen Beitrag zur Feminismus-Debatte oder ein Pamphlet zu Identitätsfragen. Wie in „Jedermann“ sind auch hier das Sterben, die Angst vor dem Tod das Thema, jenseits aber der Koordinaten des christlichen Glaubens, selbst wenn der Text und auch die Inszenierung immer wieder Bezug auf das Stück Hofmannsthals nehmen. So findet beispielsweise die Tischgesellschaft Jedermanns ihre Entsprechung in dem Video, in dem die Protagonistin zusammen mit Gästen ein Mahl einnimmt.
Wie dem Programmheft zu entnehmen ist, stießen Rau und sein Team bei ihrer Suche nach dem Stoff für einen weiblichen Jedermann auf Helga Bedau, die an Bauchspeicheldrüsenkrebs leidet und deren Lebenszeit befristet ist. Die Figur und ihre Geschichte sind real, was den Theatermacher dazu bewegt haben dürfte, Bedau in den Mittelpunkt der Aufführung zu stellen. Hofmannsthals Jedermann ist eine Theaterfigur, ein Popanz, der für Lebensgier, Geld und Geiz steht, Bedau hingegen ist ein leibhaftiger Mensch, der sich der Einsamkeit des Sterbens stellen muss. Fiktion ist möglicherweise nur, was die Schauspielerin über einen ersten Kontakt berichtet: Sie habe einen Brief erhalten, in dem die Schreiberin die Bitte äußerte, vor ihrem angekündigten Tod noch einmal auf der Bühne stehen zu dürfen, wie sie es in ihrer Jugend als Statistin an einem Berliner Theater getan habe. Das entspricht übrigens einem Punkt des Manifests, das Rau für seine Intendanz in Gent entwickelt hatte: Dass in seinen Inszenierungen nie nur Berufsschauspieler sondern auch Laien mitzuwirken haben.
Angekündigter Krebstod
„Everywoman“ hat außer der Schauspielerin und der Protagonistin keine weiteren Personen, es gibt auch keine Handlung. Ein Gerüst für die Gedanken über den Tod, das Theater und die Welt bilden biografische Einzelheiten: Jedefrau verließ früh das Ruhrgebiet und ging nach Westberlin, der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg 1967 bei einer Demonstration dient als Chiffre für jene Jahre, es gibt einen Mann, der sich entschließt in seine griechische Heimat zurückzukehren, wohin ihm später der gemeinsame Sohn folgen wird. Ein normales, unspektakuläres Leben, das bis zur Krebsdiagnose und dem zu erwartenden Ausgang der Krankheit offenbar ohne große Dramen verlief. Helga Bedau tritt kein einziges Mal auf, man sieht sie nur auf den Videoaufnahmen, sieht nur das ernste, weiche Gesicht, das aber keine Spur von Angst oder Verbitterung zeigt. Ihr Ton ist etwas zurückgenommen, nachdenklich und wirkt genau darum eindringlich. Bedau spielt hier keine Theater- oder Filmrolle, hier weiß jemand von dem baldigen Tod und spricht darüber.
Das alles hätte zu wenig mehr als einer anrührenden Dokumentation gereicht, hätten Rau und sein Team daraus nicht ein Stück gebaut, in dem Ursina Lardi als Schauspielerin mal erzählt, mal Helga Bedau befragt, einen Dialog in Gang setzt und dann wieder zu Bedaus Stimme auf der Bühne wird. Das Video, das die Aufführung nicht illustriert, sondern ein dramaturgisches Mittel ist, funktioniert so perfekt, dass Lardi einmal sogar die Bühne verlässt und kurz danach im Bild an der Seite Bedaus auftaucht, wo beide das Gespräch so fortsetzen, als befände sich die Hauptfigur nur in einem anderen Raum hinter der Bühne. Nicht weniger geschickt sind die Anspielungen auf „Jedermann“ eingebaut. Während dieser beispielsweise zuletzt sogar den Mammon als Begleiter auf seinem letzten Weg haben will, fragt Bedau Lardi trocken, mit welcher Abendgage sie rechnen könne. Sie brauche mehrere tausend Euro für ihre Überführung nach Griechenland.
Der Skandal des Sterbens
Die Aufführung meidet jedes Pathos, die Ausstattung ist karg, auf der Bühne sind nur das Klavier, zwei Findlinge und einige Umzugskartons zu sehen, Lardi trägt Alltagskleidung. Zu den Schwächen des Stücks aber gehört, dass jenseits der Reflexionen über die Stille zwischen dem Finale und dem Applaus im Theater die Nachdenklichkeiten über Tod und Erlösung abstrakt und nebulös wirken. Stattdessen fesseln das Gesicht, Sprache und Tonfall Bedaus, die Nüchternheit und der Mut, mit denen sie dem Tod, diesem großen Widerspruch entgegenblickt. Sollte es tatsächlich ihr Wunsch gewesen sein, nochmals auf der Bühne zu stehen, so erfährt sie Trost in dessen Erfüllung. Bei der Premiere erschien sie zum Schlussapplaus, wie lange sie jedoch die Prognosen der Ärzte überleben wird, ist ungewiss. Vielleicht liegt darin sogar so etwas wie Erlösung: Nur Wochen oder Monate vor dem Tod anderen, Fremden, deren Leben ebenfalls eines Tages erlöschen wird, über das Drama, über den Skandal des Sterbens Mitteilung gemacht zu haben. Auch bei der zweiten der Aufführungen galten die Begeisterung und der langanhaltende Beifall vor allem dem Menschen Helga Bedau und ihrem Bekenntnis. Die Aufführung ist eine Koproduktion mit der Schaubühne Berlin und wird ab dem Herbst in der deutschen Hauptstadt gezeigt.