Das Kinofestival „Deutsche Filmtage in Bukarest“, das vom Goethe-Institut Bukarest veranstaltet wurde und vom 9. bis 14. November im Cinema Studio der rumänischen Kapitale stattfand, setzte an den einzelnen Festivaltagen jeweils unterschiedliche thematische Schwerpunkte. Am Eröffnungstag des Kinofestivals wurde der Erfolgsfilm „Oh Boy!“ von Jan Ole Gerster gezeigt, die Geschichte des Studienabbrechers Niko, der ziellos durch das Berlin der Gegenwart driftet und das Lebensgefühl der Generation „U Dreißig“ verkörpert. An den darauf folgenden Festivaltagen waren preisgekrönte deutsche Filme von diesem Jahr sowie weitere Debütfilme des Jungen Deutschen Kinos zu sehen. Zwei Festivaltage waren eigens deutschen Regisseuren gewidmet: dem Filmemacher Hans-Christian Schmid, der vor allem durch seinen Exorzismus-Film „Requiem“ aus dem Jahre 2006 größere Bekanntheit erlangte, sowie dem schon seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die deutsche Filmkunst repräsentierenden Regisseur und Schauspieler Werner Herzog.
Einer der sechs Festivaltage stellte speziell das Schicksal von Frauen in den Brennpunkt. Gezeigt wurden der 2011 erschienene Film „Die Unsichtbare“ des in Bergen auf Rügen geborenen Christian Schwochow, der im Jahr darauf auch bei der TV-Verfilmung des Romans „Der Turm“ von Uwe Tellkamp Regie führte, sowie der im vergangenen Jahr entstandene Film „Du hast es versprochen“ der aus Berlin gebürtigen Regisseurin Alexandra Schmidt. Die zwei genannten Filmschaffenden sind beide im Jahre 1978 geboren, gehören also der Generation „Ü Dreißig“ an. Ebenso schrieben beide Regieführende am Drehbuch ihrer Streifen mit: Ihre Koautoren waren im Falle Schwochows dessen Mutter, die Autorin und Regisseurin Heide Schwochow, und im Falle Schmidts der deutsche Drehbuchautor Valentin Mereutza.
Wenn man versucht ist, den Film „Du hast es versprochen“ als spezifisches Exempel des Jungen Deutschen Kinos zu sehen, wird man schnell eines anderen belehrt, denn Alexandra Schmidts Langfilmdebüt ist weit eher in Hollywood zur Schule gegangen. Am Anfang denkt man an das weibliche Selbstfindungsdrama einer betrogenen Ehefrau, dann an die Schilderung einer Frauenfreundschaft à la Thelma & Louise, doch bald schon changiert der Film ins Mysterygenre, bevor er anschließend mit knallharten Horroreffekten aufwartet und die Gattung Psychothriller mit sattsam bekannten Handlungselementen bedient. Am Ende versucht der Film die realistische Kurve zu kriegen, indem er das Unglaubliche und Unglaubhafte der Filmhandlung als wohl kalkulierten Rachefeldzug einer traumatisierten Frau erscheinen lassen möchte und diesen – das wäre vielleicht typisch deutsch! – in der Schlusssequenz auch noch ausführlich und im Detail erläutert, anstatt das Filmgeschehen im mysteriösen Ungewissen zu belassen.
Unabhängig von dieser unausgegoren wirkenden Genremelange besticht der Film, wenn man von den zahlreichen plötzlichen Schreckmomenten und den quälend Angst erzeugenden Keller- und Verliesszenen einmal absieht, durch die Kameraführung (Wedigo von Schultzendorff) bei den gelungenen Landschafts- und Interieuraufnahmen sowie durch die schauspielerischen Leistungen von Mina Tander, besonders aber von Katharina Thalbach sowie von allen im Film auftretenden Kindern. Das schön inszenierte Leitmotiv des Rückwärtszählens gibt dem Film insgesamt inneren Halt und verleiht ihm äußere Spannung.
Weitaus eigenständiger und von anderem Kaliber ist dagegen Christian Schwochows Film „Die Unsichtbare“, der in Berlin spielt und im Milieu von Schauspielschule und Theaterbühne angesiedelt ist. Er ist zugleich ein Familiendrama (allein erziehende Mutter mit zwei Töchtern, von denen eine behindert ist) und das Drama einer gehemmten und psychisch belasteten jungen Frau mit Namen Josefine – beeindruckend dargestellt von Stine Fischer Christensen –, die ihr Schauspielstudium zur Selbsttherapie nutzen möchte. Behilflich ist ihr dabei der von Ulrich Noethen grandios verkörperte Regisseur Kaspar Friedmann, der das von ihm neu zu probende und frisch zu inszenierende Stück „Camille“ ganz mit Schauspielstudenten besetzt und die junge Josefine ausdrücklich deswegen für die Titelrolle ausgewählt hat, „weil sie einen Schaden hat“.
Die zwischen sexuellen Hemmungen und Befreiungsphantasien, zwischen familiären Problemen und Selbstfindungsstreben hin und her geworfene Josefine wird vom alternden Regisseur Kaspar an ihre persönlichen, schauspielerischen wie psychischen, Grenzen geführt, bald darauf auch verführt und schließlich bis an den Rand des Selbstmords getrieben. So wie sich Kaspar, mit den Worten eines von Josefines Kommilitonen, wie ein Blutegel mit dem Leben Josefines vollsaugt, bevor er satt getrunken von ihr abfällt, so saugt sich Josefine mit der Rolle Camilles voll, um einerseits Kaspar abzuwehren, andererseits ihren Nachbarn Joachim (Ronald Zehrfeld) zu erobern und außerdem, gleichsam nebenbei, ihre persönlichen und familiären Probleme zu bewältigen.
Dieses Changieren zwischen der Dramenrolle Camilles und der sozialen Rolle Josefines, zwischen Kunst und Leben, zwischen Möglichkeit und Realität, zwischen Freiheit und Begrenzung, dieses Gleiten zwischen den Bereichen des von außen Geforderten und von innen Gewollten, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, dieses Hin-und-Her-Wogen darzustellen, ist der dänischen Schauspielerin Stine Fischer Christensen hervorragend gelungen, die dafür auch beim Internationalen Filmfestival Karlsbad/Karlovy Vary (KVIFF) 2011 den Preis für die beste Hauptdarstellerin verliehen bekam.
Desgleichen erhielten Dagmar Manzel (für ihre Rolle als Josefines Mutter) und Ulrich Noethen als beste weibliche und männliche Nebendarsteller den Deutschen Schauspielerpreis 2012, und Christina Drechsler wurde (für ihre Rolle als Josefines behinderte Schwester) als beste Nebendarstellerin für den Deutschen Filmpreis 2012 nominiert. Auftritte von Gudrun Landgrebe, Corinna Harfouch und Ulrich Matthes rundeten den schauspielerischen Genuss des sehenswerten Filmes ab, der die Kamera gekonnt zwischen der künstlerischen Welt der Theaterbühne und der wirklichen Welt des Alltags hin und her schwenken ließ und gewiss zu den Höhepunkten der Deutschen Filmtage 2013 in Bukarest zählte.