Es ist eine Krux mit den Klischees. Bei unseren Begegnungen mit der Welt kommen uns ständig Stereo-typen in die Quere. So viel Wissen wir sammeln, so viel vorgefertigte Meinung häuft sich auch in uns an und bleibt hartnäckig hängen, selbst wenn wir sie mit Vernunft und Ratio auszuräuchern versuchen. Klischees sind ja nicht immer nur falsch, im Gegenteil, häufig beweisen sie sich und meißeln sich erneut in unser Denken ein. Ganze Länder existieren für uns in dieser Grauzone zwischen Wahrheit und Täuschung. Für Rumänien trifft das besonders zu. Im Lauf seiner aufregenden Geschichte hat es so einprägsame Bilder produziert, wie die Literatur nur in ihren stärksten Momenten hervorbringen kann. Graf Dracula und all die Vampire, die in den dunklen, karpatischen Wäldern hausen, mythologische Gestalten freilich, sie sind von Transsilvanien nicht wegzudenken. Oder Ceaușescu und der wahnwitzige Parlamentspalast, den er hinterlassen hat, nach dem Pentagon das zweitgrößte Gebäude der Welt. Kaum ein anderer Diktator hat sich so bildhaft verewigt wie dieser Neostalinist. Und die meisten Westeuropäer denken heute bei Rumänien auch sofort an Einbrecherbanden und organsierte Bettlergruppen, die über die Grenzen schwappen, und an verwahrloste Straßenkinder oder Rudel von streunenden Hunden. Ich bekomme von Derartigem ein wenig mit auf meiner Reise, vorwiegend aber komme ich in Kontakt mit hochgebildeten, sprachlich versierten, vornehmen und zurückhaltenden Menschen. Ob in Zügen oder Cafés, meist treffe ich auf ruhigere, höflichere Zeitgenossinnen und -genossen als auf jene rücksichts- und anstandslose Gesellschaft, der ich bei meinen Spießrutenläufen durch Deutschland oder Österreich stets versuche, aus dem Weg zu gehen. Hunde jedoch, die auf der Straße herumlungern, sehe ich auch oder die ätzend stinkenden Rauchschwaden über Dörfern, in denen wohl der importierte Sondermüll aus Westeuropa verbrannt wird. Sowohl apokalyptische wie hoffnungsvolle Bilder bietet mir Rumänien.
Kurz nach meiner Ankunft geistert gerade die Meldung über eine Joggerin durch die Medien, die in einem Vorort Bukarests von Streunern angefallen und zu Tode gebissen wurde. Mit der Hundephobie, unter der ich leide, werde ich diese Nachricht lange nicht abschütteln. Doch Bukarest sei eine vollkommen sichere Stadt, wird mir berichtet. Es gebe praktisch keine Kriminalität, weil die Kriminellen ja im westlichen Ausland operieren. Das klingt irgendwie logisch – und doch erkenne ich zumindest in rumänischen Innenstädten so viel neuen Reichtum, dass mir vorkommt, die Gauner würden auch hier einiges erbeuten können.
Die Stadt hat sich seit meinem letzten Besuch stark gewandelt. Vor 20 Jahren hatte ich einen Auftritt hier im Rahmen eines Festivals, im Frühjahr 2004 an der Piața Unirii. Ich weiß noch, wie ich damals von einer unglaublichen Energie mitgerissen wurde, die in der Stadt zu spüren war, eine Aufbruchsstimmung. Bukarest schien, 15 Jahre nach der Revolution, noch roh und ungeschliffen, vor Tatendrang förmlich zu platzen. Auch heute ist in der Altstadt Energie und Tatendrang zu spüren, aber er scheint hauptsächlich kommerzieller Art zu sein. Die Stadt, die den Diktator losgeworden ist, unterwirft sich zusehends einem neuen Diktat, jenem des Kapitals. Der Neoliberalismus hat hier wie an so vielen anderen Orten seinen Siegesmarsch begonnen. Dass er in kurzer Zeit dazu in der Lage ist, ganze Städte ihrer Eigenarten zu berauben, ihnen durch die immergleichen Marktstrategien Flair und Charme zu nehmen und sie letztendlich gesichtslos und austauschbar zu machen, hat er oft genug bewiesen. Noch ist die Bu-karester Altstadt nicht niedergetrampelt wie Prag, Rom, Porto oder Barcelona, aber der Weg zu diesem Schicksal scheint vorgezeichnet. Horden von Touristen zwängen sich durch die Gassen. Rumäninnen in folkloristischen Verkleidungen lotsen sie in Kirchen, Paläste und Restaurants mit „authentic cuisine“. Das Preisniveau in der Stadt hat sich bereits jenem angeglichen, unter dem auch die österreichische Bevölkerung stöhnt.
Und doch gibt es erkennbare Unterschiede. Auffällig ist, dass viel weniger Obdachlose und Bettler im Bukarester Straßenbild zu sehen sind als in deutschen oder österreichischen Städten. Auch treffe ich hier auf keine einzige Frau mit Hijab. Rumänien ist ein Auswanderer-, kein Einwandererland – noch zumindest. Die Passanten in Bukarest wirken durchwegs südost-europäisch, eine Ausnahme bilden nur die zahlreichen, großteils amerikanischen und französischen Touristen. Und noch ein Unterschied fällt mir auf: Alkohol scheint hier nicht so exzessiv getrunken zu werden wie bei uns. Nach einer Lesung sitze ich abends in einem Pub. Die Jugendlichen, die sich an einem großen Tisch neben mir zum Feiern treffen, trinken gemütlich ein wenig Bier, jeder und jede von ihnen aber hat neben dem Bierglas ein Mineralwasser stehen. Verblüffend gesittet geht es hier zu, stelle ich nicht nur in jenem Moment meines Rumänien-Aufenthalts fest.
Der Text wurde im Rahmen eines Projektes des Österreichischen Kulturforums und auf Einladung desselben sowie der Österreichischen Gesellschaft für Literatur im Rahmen des Programms Literaturdialoge erstellt.