Die Deutsche Staatsoper Berlin, die derzeit immer noch im wenig opernfreundlichen Schillertheater an der Bismarckstraße gastieren muss, bevor sie voraussichtlich im Oktober nächsten Jahres an ihre angestammte Spielstätte Unter den Linden zurückkehren kann, hat mit Bohuslav Martinus Oper „Juliette“ (Uraufführung 1938 in Prag) ein selten gespieltes Werk der Moderne auf die Bühne gebracht, das es fraglos verdient, im Repertoire aller bedeutenden Opernhäuser vertreten zu sein.
Die Berliner Aufführung von „Juliette“ am 7. Juni war die vierte Darbietung seit ihrer Premiere am 28. Mai und atmete auch noch ein wenig Premierenluft, zumal der Opernabend unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim in kompletter Premierenbesetzung vonstatten ging, mit den Weltstars Magdalena Kožená in der Titelrolle und Rolando Villazón in der Rolle der männlichen Hauptfigur Michel. Charakteristisch für diese lyrische Oper, die auf dem surrealistischen Theaterstück „Juliette ou la Clé de songes“ (Juliette oder der Schlüssel der Träume) von Georges Neveux aus dem Jahre 1930 beruht, ist, dass außer den beiden Protagonisten Juliette und Michel keine der zahlreichen auftretenden Figuren einen Namen trägt. Das verweist bereits auf die Mechanismen der Verschiebung und Verdichtung, wie sie Freud in seiner „Traumdeutung“ exemplarisch beschrieben hat. Die im Traum manifesten Namen verlieren ihre Bedeutung, wenn es darum geht, den latenten Traumgedanken ans Licht des Bewusstseins zu heben.
Die grandiose Inszenierung von Claus Guth, der in Berlin in diesem Jahr bereits mit der Premiere von „Salome“ an der Deutschen Oper Furore gemacht hatte, folgt genau jener psychoanalytischen Logik, indem sie den ersten Akt als traumatisches Resultat eines Geschehens interpretiert, das erst im zweiten Akt ohne Traumentstellung erzählt wird. So wie alle im ersten Akt auftretenden Nebenfiguren nicht nur ihren Namen, sondern zudem ihr Gedächtnis verloren haben, so sind auch der sich wenngleich partiell erinnernden Hauptfigur Michel die Bewusstseinsinhalte nicht mehr unmittelbar zugänglich, vielmehr sind sie in Schubladen, Schränken, Klappen, hinter Türen und unter dem Boden versteckt und versenkt, von wo sie plötzlich und schockhaft auf die ansonsten durchweg leere Bühne geraten. Hier fällt durch eine Luke eine Pistole, die sich dann im zweiten Akt als Mordwaffe entpuppt. Dort entnimmt Michel einer Schublade das Blatt einer Monstera deliciosa, jener auch als Fensterblatt bezeichneten Zimmerpflanze, die dann im zweiten Akt in monströsem Ausmaß mit baumstarken Luftwurzeln das Bühnenbild (Alfred Peter) beherrscht.
Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, die Fülle der Kostüme (Eva Dessecker) und Requisiten, angefangen vom roten Halstuch über Juliettes rotes Kleid bis zum roten Fotoalbum, in das keine Bilder eingeklebt sind, auch nur aufzählen zu wollen; in ihrer Rekurrenz und Wiederkehr spiegeln sie aber alle die Arbeit des Bewusstseins, das latente Inhalte in den Manifestationen des Traum verbirgt oder, umgekehrt, jene aus diesem wieder entbirgt. Auch die auftretenden Personen sind diesem Vexierspiel des Bewusstseins unterworfen, etwa wenn der Kommissar, der den Mord an Juliette untersucht, von Michel zur Rede gestellt, sich plötzlich als Briefträger zu erkennen gibt, von dem Mordfall überhaupt nichts zu wissen scheint und obendrein Briefe mit sich führt, die schon seit drei Jahren auf ihre Zustellung warten.
Befasst sich der erste Akt von „Juliette“ mit dem Traumapatienten Michel, schildert der zweite Akt die traumatisierende Urszene, so stellt der als Epilog zu betrachtende dritte Akt, der im sogenannten Zentralbüro für Träume spielt, die Frage nach der Therapie.
Ist angesichts der Schwere jenes Traumas Heilung möglich oder verbleibt Michel in diesem umnachteten Reich des Wahnsinns? Claus Guths Inszenierung lässt diese Frage offen und ihre Ambivalenz bestehen, zumal im dritten Akt nicht nur die konturlose nebeldurchwallte Wahnsinnswelt, sondern auch, wenngleich verkleinert und in den Hintergrund gerückt, das an die Realität gemahnende Bühnenbild des ersten Aktes präsent ist. Außerdem wird in allen drei Akten die Anfangsszene des Stückes nahezu identisch wiederholt, wo der kleine Araber (Thomas Lichtenecker) aus einem Wandschrank herausrollt, einen Purzelbaum schlägt und anschließend Michel zusammen mit dem alten Araber in ein Gespräch verwickelt. Die Möglichkeit zum wirklichen Wiederbeginn und realistischen Neuanfang bleibt also auch dem Geschehen im Reich des Wahnsinns eingeschrieben.
Musikalisch ist „Juliette“ von Bohuslav Martinu ein ausgesprochen abwechslungsreiches Werk, das stimmlich alle Register des Sprechens, des Parlandos und des Gesangs zieht, von mannigfachen musikhistorischen Einflüssen zehrt (insbesondere von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“, von Debussys „Pelléas et Mélisande“ oder auch von Gershwins Jazzkompositionen) und überhaupt vor Ideen sprüht, man denke etwa an das Fugato mit der Spielzeugente im ersten Akt, das in wunderbarer Weise das „quak quak“ des Badewannenvogels in musikalische Humoristik übersetzt, oder an die Eisenbahn-Toccata im dritten Akt, die das Fauchen und Zischen des Dampfkessels, das Mahlen des Gestänges und das Rattern der Lokomotive in melodiöse Bewegungen transponiert. Die Eisenbahn-Toccata erklingt übrigens während der kurzen Zeit eines Traums, den ein Lokomotivführer träumt, der gerade im Orientexpress die rumänische Grenze überfährt.
Unvergesslich sind in dieser Inszenierung die Szene mit den streitenden Damen, die mit ihren roten Kleidern und schwarzen Handtaschen aus einem Rollschrank auf die Bühne geraten und dort für Trubel und Heiterkeit sorgen, bevor sie wieder in der Wand verschwinden, oder die Szene mit dem Papageien, der anschließend im Zylinder landet, oder die Szene mit der Chiromantin, die nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit aus den Händen herausliest. Überbordender Humor ist das Kennzeichen dieser Inszenierung, die vor allem auch vom komödiantischen Talent Rolando Villazóns profitiert, der mit allen Mitteln des Slapstick eines Charlie Chaplin oder der Situationskomik eines Rowan Atkinson alias Mr. Bean, aber auch mit dem ihm ganz eigenen Bühnenhumor das Operngeschehen bestimmt und dabei spielerisch gänzlich vergessen macht, wie schwierig und wie anspruchsvoll die Gesangspassagen sind, die er, Juliette aber auch alle anderen Solistinnen und Solisten, unter denen nach den bereits genannten besonders Richard Croft, Wolfgang Schöne, Arttu Kataja und Elsa Dreisig hervorgehoben zu werden verdienen, zu bewältigen haben.
Der Schlussbeifall, während dessen sich bei den verschiedenen Vorhängen die Gesangssolistinnen und -solisten, die Tänzer und der Staatsopernchor in wechselnden Anordnungen präsentierten, brachte auch eine wunderbare Überraschung. Die Staatskapelle Berlin zeigte sich in voller Besetzung mit den Instrumenten als gesamtes Ensemble auf der Bühne des Schillertheaters und unterstrich damit auch bildhaft noch einmal den tragenden instrumentalen Grund für die herrlichen Stimmen zur begeisternden Musik von Bohuslav Martinu.