Bald ist es wieder soweit und unzählige Besucher strömen nach Hermannstadt/Sibiu zu dem zweiten Großen Sachsentreffen. Das Sächsische ist eine zähe Sprache, die sich über die Jahrhunderte in jedem einzelnen Dorf ganz eigen entwickelt hat, so dass sich manchmal Sprecher aus Nachbardörfern kaum verstehen. Und trotz der geringen Zahl an jeweiligen Sprechern hat sie durchgehalten – bis in die Neuzeit, bis ins 20. Jahrhundert, bis die Sprecher sie selber aufgegeben haben. Manche schon beim Umzug „in die Stadt“, die meisten bei der Aussiedlung nach Deutschland. Dementsprechend kann man bei manchen Orten die Anzahl der Mundartsprecher bald an den Fingern abzählen.
Was geblieben ist, ist das abgeschliffene Hochsächsisch, wie es zum Beispiel in Hermannstadt gesprochen wird. Wie lange noch? Hinderlich ist auch die Tatsache, dass dem Sächsischen keine Schrift zur Verfügung steht und man sich um ungefähre Umschreibungen bemüht, die dann wiederum einen Stolperstein bei der Drucklegung sächsischer Texte bilden.
Und nun kommt Oswald Kessler und wagt es im Sommer 2024, einen weitgehend in Mundart verfassten Gedichtband mit dem Titel „Sommerdäsch mät siwe’ Kruëden“ herauszugeben. Gegen den Trend. Gegen alle Erwartung. Gegen das Vergessen?
Auf 200 Seiten gibt es eine Vielzahl an sächsischen Gedichten, einige in deutscher Sprache und vier rumänische, dazu einen kurzen Prosatext. Manche, die dem Autor wohl wichtig waren, gibt es sowohl auf Sächsisch, als auch auf Deutsch bzw. Rumänisch (S. 151-152, 155-156), zwei Gedichte sind nur auf Rumänisch, andere nur auf Deutsch.
So unverständlich das Sächsische manchen Lesern vorkommen mag, so seltsam mutet den geübten Leser die Zusammenstellung des Bandes an. Eröffnet wird er von einem siebenseitigen Vorwort des Verfassers und einem dreiseitigen Vorwort in rumänischer Sprache des Präsidenten der Rumänischen Akademie, Dr. Ioan- Aurel Pop. Das Inhaltsverzeichnis folgt erst auf den letzten Seiten des Buches, dafür gibt es davor noch ein dreizehnseitiges Nachwort des Autors, in dem manches aus dem Vorwort wieder aufgenommen wird, was etwas verwirrend wirkt. Nach diesem kann man auch die Übersetzung des Vorworts von Herrn Pop ins Deutsche nachlesen. Ein professionell durchgeführtes Lektorat hätte dem Buch gut getan. Damit hätten sich manche Fehler, holprige Stellen, unübersichtliche Strukturen im Aufbau vermeiden lassen. Andererseits erkennt man schon beim bloßen Durchblättern, wieviel Herzblut in die Arbeit geflossen ist.
Ergänzt werden die Texte hin und wieder durch sicherlich willkommene Erklärungen besonderer Begriffe, Benennungen, aber auch zu den genannten Orten. Und durch Fotografien! In Vor- und Nachwort weist Oswald Kessler ausführlich auf seine über den Hobbystatus hinausgewachsene Beschäftigung mit der Fotografie hin. Dementsprechend gibt es Aufnahmen, ausschließlich in Schwarz-Weiß, in verschiedenen Techniken. Manchmal stellen sie das Thema des Gedichtes dar, einen Gegenstand, eine Kirchenburg, das Johannisfest, Stadtansichten von Hermannstadt u. a., manchmal sind es Naturaufnahmen.
Die Texte sind nicht unmittelbar chronologisch geordnet, jedoch beginnt der Band mit den neuesten Gedichten von 2023 und gegen Ende des Bandes finden sich solche aus den 1970er Jahren.
Den Einsatz bietet das Gedicht „Wäë kâumen de Gedichter?“ mit dem Hinweis im Untertitel „Nach dem siebenbürgisch-sächsischen Volkslied aus dem 17. Jahrhundert ‚Wie kam der Tod‘“ (S. 15). Ja, wie kamen die Gedichte? Nun, mit einem Gefühl des Über-den-Dingen-des-Alltags-Stehen, jedoch geprägt von einer liebevollen Haltung diesen gegenüber.
Die Thematik der Gedichte ist weit gestreut. Ortschaften wie Hermannstadt/Sibiu (z. B. S. 50), München (S. 8-19), Meschen/Mo{na (S. 23), Techirghiol am Schwarzen Meer (S. 26), Freck/Avrig mit der Brukenthalschen Orangerie (S.30, 36), Mühlbach/Sebe{ (S.60), Venedig (S. 62), die Sage vom Kirchenschatz von Heltau/Cisn²die wird in einem Gedicht thematisiert, Dobring/Dobârca (S. 76) München (S. 97, 101 u. a.), Bartholomae, Kleinkopisch/Cop{a Mica in dem Gedicht „Bai Kopesch um Rech“. Der Autor bemerkt dazu: „Dieses Gedicht durfte in der Zeitschrift „Neue Literatur“ (Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der S. R. Rumänien) Nr. 2, vom Februar 1989, nicht neben denen der anderen zwölf Kollegen, die bei dem Mundartdichtertreffen in Stolzenburg/Slimnic vom 24. und 25. September 1988 gelesen hatten, veröffentlicht werden.“
Natürlich kommt auch immer wieder Kerz/Câr]a vor, der Heimatort Oswald Kesslers und Ausgangspunkt für die meist meditativen Gedichte, die Stimmungsbilder, die Kessler wunderbar auf Sächsisch ausdrücken kann.
Kein Motiv ist zu weit von dieser sächsischen Erlebniswelt entfernt. So wird der siebenbürgische Sternenhimmel sowohl auf Sächsisch als auch auf Deutsch humorvoll beschrieben (S. 36-40).
In „Sommersåks gedielt åf zwëi“ (S. 42) beschreibt Kessler das Dilemma vieler älterer Sachsen, die vor Jahrzehnten nach Deutschland ausgewandert sind und nun in zwei Welten leben, im Sommer in Siebenbürgen, im Winter in Deutschland. Ein Zustand, der auch Erfüllung, aber auch viel Frust mit sich bringt und den viele sich scheuen, so unmittelbar zu thematisieren.
Die Siebenbürger Sachsen waren zum großen Teil Bauern, aber auch das Handwerk hatte einen Anteil am Berufsleben. Kessler widmet den Handwerken mehrere Gedichte, wie dem Schmied, dem Flachsbrechen (S. 50), dem Sichelschmied (S. 54), dem Kupferschmied (S. 56), dem Weben (S. 70), dem Möbelschreiner oder dem Brotbacken. Auch das Töpfern war wichtig für den Alltag und der Hermannstädter Töpfermarkt ist immer noch einer der Höhepunkte im Jahresablauf (S. 117).
Biblische Motive werden explizit in zwei Gedichte aufgenommen, in jenem zu Adam und Eva, wo aber eine Kakifrucht den Apfel ersetzt (S. 64), es ist auch der einzige Prosatext in dem Band. Das zweite Gedicht dieser Reihe thematisiert das Gleichnis vom Sämann (S. 20), illustriert mit dem Foto eines Bauern bei der Aussaat.
In einem den Siebenbürger Sachsen gewidmeten Gedichtband darf der „Pali“, der selbstgebrannte Schnaps, nicht fehlen, nachzulesen auf Seite 47-48.
Gleich anschließend findet sich auf Seite 49 ein melancholisches Gedicht mit intertextuell eingebrachten Rilke-Anklängen, „En Sommersåks äm Härwest“, dessen erste Strophe so lautet:
De Zetch äs kun Härr,
de Owendklok schliet häll,
de Niëwel sen än de‘ Bäsch gestijen,
bai ålle Nebern äs et ställ.
Eine weitere Reihe von Gedichten sind verschiedenen Persönlichkeiten gewidmet. So das von dem Gedicht „Riga Crypto și Lapona Enigel“ des rumänischen Mathematikers und Dichters Ion Barbu inspirierte Gedicht Kesslers „Der Härwest uch det Enigel (S. 66), das dem Kronstädter Naturphilosophen und frühen Aussteiger gewidmete Gedicht „Gloken der Stådt. Gusto Gräser ä München“ (S. 68), oder jenes an den früh verstorbenen genialen Pianisten erinnernde „Carl Filtsch um Klavier“ (S. 71) und jenes zu Hermann Oberth, dem „Vater der Raumfahrt“ (S. 78).
Die Mythenwelt der Sachsen wird zumindest ansatzweise gestreift, indem die „Trud“ oder die „Waldfrau“ zum Thema gemacht werden (S. 88-89).
Ein schmerzliches Gefühl vermitteln die Gedichte über Orte, in denen es keine sächsischen Bewohner mehr gibt, die Kirchen verfallen, im Pfarrhaus stellen sich die Pferde unter, so auf den Seiten 73, 74-75, 76, 132.
Gegen Ende des Bandes kommen vermehrt auch rumänische Texte vor, so die zweisprachige Beschreibung des Abtsdorfer Kronenfestes, auf Deutsch und Rumänisch (S.149-151, bzw. 152). Oder auf Seite 164 der titelgebende Sommerdäsch, bzw. Masa de vară, auf Sächsisch und Rumänisch.
Auch scheinbar banale Dinge wie Steine vom Bach oder vom Weingartenrain (S. 172) haben dem Dichter etwas zu sagen, die Wildblumen auf Brachflächen oder Wiesen, wie Disteln oder das Johanniskraut (Gehonnesblommen, S. 166).
Ein reichhaltiges Buch also. Für jede Stimmung, für jeden Gedanken an Siebenbürgen findet sich das passende Gedicht. Man muss nur Sächsisch lesen können! Das Erscheinen eines solchen Bandes ist sehr zu begrüßen, denn er hält manches fest, was sonst in Vergessenheit geraten würde – nicht zuletzt die Sprache an sich. Das tröstet auch über manche Fehler und die zumindest anfänglich als unübersichtlich empfundene Zusammenstellung der Texte hinweg. Je weiter man sich hineinliest, umso mehr erschließt sich die durchaus chronologische und thematische Anordnung der Gedichte.
Das Buch wird beim Sachsentreffen in Hermannstadt (2.bis 4. August) am Stand des Demokratischen Forums der Deutschen in Hermannstadt (DFDH) angeboten werden. Das Motto des Treffens „Heimat ohne Grenzen“ lässt sich durchaus auch auf Oswald Kesslers Gedichtband „Sommerdäsch mät siwe‘ Kruëden“ übertragen.