Die gegenwärtig weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die documenta in Kassel, befindet sich in ihrer vierzehnten Auflage seit ihrem Beginn im Jahre 1955, bei der in diesem Jahr mehr als 160 internationale Künstler an 30 Standorten ihre Werke zeigen. Eine Ausstellung, zwei Städte! In Athen, vom 8. April bis 16. Juli 2017, und in Kassel, vom 10. Juni bis 17. September 2017, wagen Künstler aller Kontinente einen enormen Spagat, um das Motto der Ausstellung, „Von Athen lernen“, in einem ausgedehnten, weltlichen Kontext zu Phänomenen, Problemen und Perspektiven durch die Augen der Kunst zu betrachten und zu erfahren. Dem künstlerischen Leiter der documenta 14, Adam Szymczyk, und seinem vielköpfigen Kuratoren-Team ist dabei eine kritisch-provokante und äußerst kommunikative Metapher erschienen.
So scheint es, dass sich einige der ausgestellten Arbeiten durchaus an der Antike orientiert haben. Die Herausforderung galt, die beiden Städte in einen Prozess gleichberechtigter Struktur münden zu lassen. Ein besonderes Merkmal kommt sowohl in Athen als auch in Kassel den öffentlichen Institutionen und Einrichtungen zugute. Der öffentliche Raum ist zudem wichtig und „Selbstreflektion“ ist hierbei ein wichtiger Baustein, dem der Besucher an allen Ausstellungsstätten auf höchst unterschiedliche Art und Weise begegnet und den er erfährt. Oft sind es Gruppen, Grüppchen oder Zweierkonstellationen, die sich, in Gespräche vertieft, nahe der Kunstwerke eingefunden haben. Die ganze Stadt Kassel scheint sich mit ihrer documenta zu identifizieren, die alle fünf Jahre auch eine enorme Wirtschaftskraft in die Stadt lockt. Athen hat mit knapp 340.000 Besuchern die Erwartungen übertroffen und die Ausstellung in Kassel hat alle Chancen, mit knapp einer Million Besuchern innerhalb von 100 Tagen einen neuen Rekord aufzustellen.
Wie geht man als Besucher einer so großen und umfangreichen Kunstausstellung überhaupt vor, hat die überwiegende Zahl von ihnen in der Regel doch nur maximal 2-3 Tage zur Verfügung, was bei dieser Fülle an geballter Kunst wenig Zeit ist. Sich im Vorfeld zu informieren, ist auf jeden Fall hilfreich, aber kein Muss. Entsprechende Lektüre war und ist zu beiden Ausstellungsorten seit geraumer Zeit, spätestens aber mit dem Beginn der Ausstellung in Athen, in allen gängigen Medien (TV, Radio, Netz www.documenta 14.de) vorhanden. Darüber hinaus haben viele Kunstmagazine, Zeitschriften und die Tagespresse ausführliche und gesonderte Berichte und Beiträge veröffentlicht. Der Klassiker in Druckform ist natürlich der jeweilige Ausstellungskatalog, der dieses Mal beinahe in der Manier eines Telefonbuches daherkommt und nicht den Anspruch hat, die ausgestellten Kunstwerke dem Besucher näherzubringen, sondern den Fokus auf den Künstler selbst legt.
In dem im Jahre 2012 von Marina Fokidis in Athen gegründeten Magazin „South as a State of Mind“ sind seit 2015 mehrere Hefte von den Herausgebern Quinn Latimer und Adam Szynczyk zur documenta14 erschienen.
Beim Erwerb einer Eintrittskarte/Tageskarte erhält man eine sehr gute Stadtplanbroschüre und zusätzliches Info-Material. Nun, da die Gegenwartskunst nicht immer sofort zugänglich ist, oft eigenen Energien und Wahrnehmungsfeldern folgt, die man sich erst erschließen muss, ist der Rezipient immer wieder neu gefordert, wobei die bearbeiteten Themen nicht selten aktuellen und gegenwärtig-globalen Problematiken und Phänomenen entspringen. Eine hohe Qualität bei der Umsetzung ist etlichen Künstlerinnen und Künstlern in zum Teil beeindruckenden Arbeiten gelungen, die maßgebend dazu beitragen, die Spannung bei den unterschiedlichen Rundgängen immer aufs Neue zu entfachen. Dank der sparsamen Beschreibungen und Erklärungen der Werke, auf die die Ausstellungsmacher großzügig verzichtet haben, bleiben dem Betrachter glücklicherweise viele Freiheiten, sich selbst reflektierend auf den Pfad der Kunst zu begeben, sich in einem inneren Dialog zu begegnen und ein Stück weit seine eigene Erkenntnis da-raus zu gewinnen. „Wer nicht mitdenkt, der fliegt raus“, ein immer wieder aktueller Satz, mit dem der Künstler und documenta-Teilnehmer vergangener Jahrzehnte Joseph Beuys gerne provozierte.
Dass viele der Themen einen politischen Kern berühren oder gar in sich tragen, bleibt bei der documenta nicht aus. Teils übersensibilisiert, verunsichert oder gar traumatisiert von den gegenwärtigen Geschehnissen und Brennherden in der Welt und nicht zuletzt vor der eigenen Haustür, drängt sich irgendwann die Frage auf: Wie viel politisch motivierte Kunst erträgt man, wo hört der Kunstkonsum auf, was macht den Unterschied in der politischen Kunst aus, wenn die reale Gewalt gerade einmal ein paar Stunden alt ist? Und schließlich: Muss man als Künstler dieser Tage denn unbedingt politisch sein? War und ist die Kunst nicht immer schon politisch? Politisch ja, aber ohne Zwang, denn die Ereignisse sind extrem nahe gerückt, gewalttätig, diskriminierend, komplex, ungerecht, unfrei, kriegerisch, terrorisierend und in vielen Fällen enden sie tödlich. Die Sprache der Kunst sollte nicht wie ein Stempel oder eine Vorschrift daherkommen, ihre Kraft liegt in der „freien“ Wahrnehmung, im Dialog, in der Erkenntnis. Mitte August, am Abend vor unserem documenta-Besuch, tauchten in den Nachrichten die Bilder von 187 afrikanischen Männern auf, die die spanische Enklave Ceuta erreicht hatten und, kaum mit einem Kleidungsstück am Körper, ihre Ankunft in der EU ausgelassen feierten. Ein Lichtblick in den so unmenschlichen und oft tödlich endenden Versuchen, das Mittelmeer auf überfüllten Booten Richtung EU zu überwinden. Wir kennen aus den Medien eine Vielzahl dieser tragischen Bilder von unglücklichen Versuchen und sie haben sich in den letzten Jahren unweigerlich in unserem Gedächtnis festgesetzt. Ein Land wie Griechenland hatte und hat zum Teil noch immer einen großen Anteil und eine Hauptlast zu schultern, was die Flüchtlingsströme aus den Kriegsregionen in Nahost betrifft.
Bei Nieselregen ist man am nächsten Tag mit einigen Tausend Besuchern kreuz und quer auf der documenta in der Stadt unter-wegs. Ein wenig Schlangestehen muss man beinahe überall, vor dem Ticketschalter, dem Fridericianum, vor der documenta-Halle etc. Ob drinnen oder draußen, Kunst begegnet einem überall und nicht selten treten die zuckenden Adern globaler Problemthemen aus der präsentierten Kunstmaterie hervor, überwiegend zum Selbsterkunden, wobei Erinnerung und instinktives Erkennen einem manchmal als aufgeladene Theorie vor dem eigenen, noch nicht formulierten Wort zu stehen scheint. Mit anderen Worten: Vieles, was man zu sehen bekommt und entdeckt, leitet einen assoziativ zu den Geschehnissen vergangener und jüngster Menschheitsgeschichte, oft mit bitterem Nachgeschmack, wie z. B. dem Post- und Wirtschaftskolonialismus, der Erderwärmung, der Umweltzerstörung, den Kriegen und ihren Folgen, bis hin zur digitalen Vereinsamung des Menschen. Es braucht so seine Zeit, bis sich die Augen in dem Gesehenen etwas orientieren und ein Gedankennetz über die unterschiedlichen, künstlerischen Ausdrucksweisen, seien es Performances, Malerei, Videos, Installationen, Zeichnungen, Rauminstallationen oder über die teils monumental-temporären Bauten im Außen- und Innenraum, geworfen haben.
Man befindet sich schließlich auf einem Parcours des Umdenkens, entlang vieler Szenarien, die sich nicht scheuen, go- & no-go-Bereiche aufzubrechen, um etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Die Spuren vieler Künstler haften wie eine Art Zerreißprobe, die sie während der Entstehungsphase durchlaufen haben, ihren Werken an. In so manches Besuchergesicht deutet man ein nachdenkliches Staunen, einen Schrecken, eine Verwunderung, als weilten sie augenblicklich gerade auf einem anderen Planeten, um dann nach einer Weile, sich umschauend, nach Orientierung und Anschluss suchend, schnell ihr Smart-Phone zu zücken. Für viele der Besucher scheinen die zahlreichen Rundgänge durch die unterschiedlichen Ausstellungsgebäude, öffentlichen Plätze und Anlagen zu einer wahren Fotostrecke zu werden und eine Blumenwiese scheint nicht in Sicht. Das Auge sucht und sieht: Rauch steigt aus der Spitze des Zwehrenturmes hinter dem Fridericianum: Nein, es brennt nicht wirklich, kein „Habemus Papam“. Es handelt sich um eine Installation, „Expiration Movement 2017“ des Künstlers Daniel Knorr (geb. 1968 in Bukarest). Rauch und Manifest zielen auf die Erinnerungsmechanismen unserer Wahrnehmung, die erschreckend funktionieren. Was wären wir doch bloß ohne Erinnerung?
Zentral auf dem Großen Platz vor dem Fridericianum erhebt sich das Parthenon der Bücher 2017 von Marta Minujin (geb. 1941 in Buenos Aires), das in den Originalmaßen das Parthenon der Akropolis nachstellt und für dessen Realisierung mehr als 20.000 weltweit zensierte Bücher in transparente Kunststofffolie eingeschweißt wurden.
BEINGSAFEISSCARY 2017 entziffert man über den Säulen am Eingang zum Fridericianum, eine Arbeit des türkischen Künstlers Banu Cennetoglu (geb. 1970 in Ankara).
Im Fridericianum, dem Hauptgebäude der documenta selbst, erobern die Kunstwerke des Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst Athen (EMST) die Ausstellungsräume. Gleich in der Eingangshalle betritt man die digitale Lichtinstallation „The End“, 2007, des griechischen Künstlers Nikos Alexion (geb. 1980 in Rethymno). In der documenta-Halle auf der anderen Straßenseite stößt man unweigerlich auf die für den Ritus bestimmter Lebensweisen geschnitzten Masken des kanadischen Künstlers Beau Dick, der selbst den Kwakwaka’-wakw angehörte. Einige Räume weiter begegnet man der Malerei Miriam Chans (geb. 1949 in Basel); „könnteichsein“ lautet der Titel ihrer 23 Gemälde und Zeichnungen, die eine bedrückende Atmosphäre von Gewalt, Folter, Körper, Flucht, Verstümmelung, von Opfer und Täter zeigen. Dann geht es hinaus. In der Karlsaue, etwas weiter unten, ist hingegen kaum eine Spur von Kunst zu sehen. Dafür begegnet man auf einem Spaziergang durch die Grünanlagen des riesigen Parks diskutierenden, flüsternden und schweigenden documenta-Pilgern, aus deren Gesichtern man eine Art Gratwanderung zwischen Kunst, Illusion oder gar Religion abzulesen vermag. Mit jedem zurückgelegten Schritt begeben wir uns immer tiefer hinein in eine Lehrstunde nonverbaler Kommunikation, die, wenn man es schafft, sich darauf einzulassen, eine anregend heilende Wirkung entfacht. Hinter mächtigen Ahorn-, Buchen- und Erlenstämmen leuchtet in sattem Indisch-Goldgelb plötzlich die Holzkonstruktion „Trassen 2017“ von Olaf Holzapfel (geb. 1967 in Dresden) und erinnert mit ihren ineinander verzahnten Holzbalken an ein Rieseninsekt, das sich jederzeit in Bewegung setzen könnte.
Die Kunst ist in der ganzen Stadt verteilt, unmöglich alles in so kurzer Zeit zu erfassen. Am Gebrüder Grimm-Platz 6 hat der aus Ghana stammende Künstler Ibrahim Mahama (geb. 1987) zwei Gebäude, die sich gegenüber stehen und die zur nördlichen Toranlage der Stadt gehörten, in Christo-Manier mit Kaffeesäcken verhüllt, „Check Point secondi Loco 2016-2017“ heißt die Arbeit. Rumänien ist durch Geta Brătescu (geb. 1926 in Ploieşti, in Bukarest lebend) mit ihrer Videoarbeit „Automatism 2017“ und dem Aktionsprojekt „Automatismus produziert Gewalt“ aus dem Jahre 1974 vertreten. Existenzielles Handeln, Formstärke und fragile Poesie zeichnen ihre Arbeiten seit über einem halben Jahrhundert immer wieder aus und wirken aktueller denn je.
Draußen ziehen unermüdlich Besucherströme vorbei, zur nächsten Ausstellung, wo sie sich für kurze Zeit, geduldig wartend in den Schlangen vor einem der vielen Ausstellungsgebäude der Stadt, einfinden. Die Vorstellung der documenta 14 ist in vollem Gange, unsere Besuchszeit neigt sich nach zwei Tagen langsam dem Ende zu, die reflektierenden Regentropfen auf der Panoramascheibe vor uns füllen sich mehr und mehr mit Sonnenlicht, der Vorhang zieht sich noch etwas weiter vor der documenta-Bühne auf, bis zum 17. September und weit darüber hinaus. Zurück bleibt mehr als ein Kunsterlebnis.