Heimat – der Ort, an dem Wurzeln schlagen sinnlos ist


Chronischer Schlafmangel wirkt sich negativ auf unseren Alltag und Beruf, auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit aus. Das ist nichts Neues. Es sind bereits unendlich viele Studien und Beiträge zu diesem Thema erschienen – im Mai dieses Jahres beispielweise in der Neuen Zürcher Zeitung. Immer mehr Menschen meinen, mit weniger Schlaf auskommen zu können. 

Auf allen Ebenen des Lebens macht sich Schlafmangel bemerkbar: Die kognitiven Leistungen und die Aufmerksamkeit nehmen ab, das Gedächtnis leidet, die Reaktionsfähigkeit ist beeinträchtigt – mit der Konsequenz, dass Menschen reizbarer, impulsiver, ja aggressiver sind. Vielen Menschen ist ihr Schlafmangel nicht bewusst. Sie haben sich an den Mangel gewöhnt. Doch ist es nicht wünschenswert, dass sich diese Haltung durchsetzt und Schule macht: Schlafmangel kann tödliche Wirkungen zeitigen. Laut dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat sollen angeblich 17 Stunden ohne Schlaf das Reaktionsvermögen wie 0,5 Promille Alkohol im Blut beeinflussen, 22 Stunden bereits wie 1 Promille. Oft verursachen Menschen durch einen Sekundenschlaf am Steuer, der meist auf einen Erschöpfungszustand zurückzuführen ist, verheerende Unfälle. Solche Menschen müssten aus dem Verkehr gezogen werden. Ihre Schlaflosigkeit sollte behandelt werden, selbst wenn sie sich ihrer Schlafproblematik nicht bewusst sind, sie nicht ernstnehmen oder verdrängen. 
Im Februar dieses Jahres ist ein bemerkenswerter Roman erschienen: Die 1988 geborene, niederländische Autorin Ananda Serné, bislang mit Kurzgeschichten hervorgetreten, knöpft sich sachlich und doch humorvoll das Thema Schlaflosigkeit vor. Es wird eine klassische Geschichte rund um eine Hauptfigur drapiert, aber auch jede Menge Fakten und Neuigkeiten rund ums Thema Schlaf fließen in den Roman mit ein und sind grafisch hervorgehoben, sodass man als Leser wie beim Brecht’schen Verfremdungseffekt sofort merkt, dass es um einen informativen, von der Handlung abweichenden Schlenker geht.

Die Hauptfigur Eliza ist eine junge Frau auf der Suche nach beruflicher wie privater Stabilität. Ein Halt im Leben wäre nicht schlecht. Doch ihre anhaltende Schlaflosigkeit steht ihr im Wege. Ihr Arzt bringt sie auf den Gedanken, ein Schlaftagebuch zu führen. Akribisch notiert Eliza, wann sie ins Bett gegangen, wann sie eingeschlafen ist, wie oft und wie lange sie wach war, woran sie dabei gedacht, was sie getan hat, wann sie aufgestanden ist. Dass dieses Tagebuch wenig bewirkt, nimmt sie mit Humor. 

In Elizas Leben dreht sich überhaupt alles um den Schlaf: Wegen ihres Freunds lässt sie sich in der norwegische Stadt Stavangar nieder, wo sie sich am Institut ihres Freundes, dem „Institut für Schlaflosigkeit“, als Bibliothekarin verdingt. Dort findet sie eine Freundin, die sie später in einer schwierigen Lebensphase unterstützen wird. Ihr wissenschaftliches Forschungsthema ist der Zusammenhang zwischen Partnerwahl und Schlafmangel. Das Thema entdeckt sie an der Seite ihres Freundes, „weil er nämlich einfach schlief und mich das unglaublich störte“. Eliza stellt sich demnach die Frage, ob sie neben einem anderen Menschen vielleicht nicht doch besser schlafen könnte, und nimmt sich vor, das Thema im Blick zu behalten und wissenschaftlich zu ergründen. Allein, es muss sich ein Auftraggeber für diese originelle, interdisziplinär anmutende Forschungsthematik finden. Das ist nicht ohne Aussicht, zumal in den letzten Jahrzehnten immer mehr Menschen weltweit an Schlaflosigkeit leiden und Produkte wie Speziallampen oder Matratzen, „Schlaftropfen“ (die in diesem Roman fast jede Figur wie ein Lebenselixier bei sich trägt) oder sonstige Schlafmittel Absatz finden. Zudem wird in Norwegen sogar ein „ehrgeiziger Plan“ verfolgt, die just eingeführten „Schlummerkliniken“ auszubauen und voranzutreiben. Diese Kliniken sind eine Art Pflegeheim, wo offiziell angestellte „Schlafwächter“ müde und erschöpft aussehende Menschen von der Straße aufpicken, also im wahrsten Sinne des Wortes: aus dem Verkehr ziehen, und sie in die Klinik einweisen. Dort sollen sie wieder schlaffähig gemacht werden. Auf so eine Idee muss man erst kommen, doch Fiktion macht vieles möglich. Unumstritten ist der Ansatz auch im Romangeschehen verständlicherweise nicht – Eliza selbst äußert sich zunächst kritisch: „Es kann doch nicht sein, dass alle, die verwirrt oder müde sind, weggeräumt werden, weil das nicht in unser ausgeruhtes Straßenbild passt.“
In speziellen Einrichtungen werden „Schlafwächter“ ausgebildet. Nicht jeder, der sich bewirbt, wird genommen. Diejenigen, die sich für die Aufgabe eignen, unterlaufen einen strikten Lehrplan. Eliza, die das Leben nach der Trennung von ihrem Freund mit den „Superwurzeln“ hin- und herspült, wird schließlich eine solche Ausbildung absolvieren: „Seltsame Idee, es fühlt sich noch gar nicht so an, als wäre ich bald Schlafwächterin“, reflektiert Eliza. Doch ein „Schlafwächter“, der selber als Patient in der „Schlummerklinik“ landet, beruhigt sie: „Eines Tages siehst du jemanden vorbeikommen, der so müde aussieht, dass du in Panik die Schlummerklinik einschaltest. Und nach diesem Mal wird es leichter.“ Jedenfalls könnten Eliza die Erkenntnis, „dass ich kein innen habe, für mich fühlt sich alles an wie außen“, und die Einsicht „Ich glaube, ich fühle mich zu Hause an Orten, an denen Wurzeln schlagen nicht Sinn der Sache ist“ voranbringen. Tragisch wie ihr Vater, der seine Schwermut nicht mehr aushielt und ins Wasser ging, wird sie nicht enden. Über sich und das Schicksal ihres Vaters wie jenes ihrer Familie denkt sie in ihren Selbstreflexionen nach, aber auch in den Gesprächen mit Menschen aus ihrem Umfeld: „Mein Vater wurde auf einem Frachtschiff geboren, er war nirgends zu Hause, blieb sein ganzes Leben lang auf der Suche nach einem Ort, den er zu Hause nennen könnte. Ich habe das, glaube ich, ein wenig geerbt.“ 

Ananda Serné ist ein einfallsreicher Debütroman gelungen. Wie ihre Hauptfigur verbrachte auch sie ihre Kindheit mit ihren Eltern auf einem Frachtschiff auf den Wasserstraßen Europas. Dass ihre Hauptfigur nach einem Anker sucht, ist konsequent. Zuversichtlich stimmt, dass sie ihn finden wird. Pflanzen, die in der Nacht blühen und ihren Duft entfalten, die sogenannten, titelgebenden „Nachtblüher“, helfen ihr dabei – und ihre Mitmenschen. Eliza wird einen Garten anlegen. Mehr Geborgenheit braucht es nicht. – Ein zartes Manifest für die Suche nach Heimat ist dieses Buch, dessen Sprache sich unprätentiös, fast schon zu durchlässig und verständlich ausnimmt. Doch wie die Erfahrung lehrt: Die Mystik ereignet sich am Hauptbahnhof.