Gheorghe Nicolaescu ist allein mit seinen Texten.
Er begibt sich jeden Sommer, so geht das Gerücht, in sein selbstverschuldetes, in sein selbstauferlegtes Nederland-Exil – aber nicht nur zum Käseessen. Aus den winzigsten Wellen winzigster Grachten schöpft er Worte, misst er Beleuchtungsgrade, Bruchstücke lebendiger Sprache, Wendungen des Sagbaren, filtert er lichte oder eben finstere Nuancen zwischen den Zeilen, zaubert er Autoren und deren Bücher hervor, zaubert sie ins Rumänische: eine ganze Kultur zum Übersetzen, zum Umsetzen, zum Aufsetzen.
Und wie kam es dazu, dass er es kann? Durch Zufall, wie man auf der Webseite der Foundation for the Production and Translation of Dutch Literature („Portret van een vertaler. GHEORGHE NICOLAESCU“) erfährt. Anfang der Siebziger studierte er nämlich Germanistik in Leipzig – und wollte eigentlich nebenbei Schwedisch lernen, das ihm exotischer vorkam als Nederlands. Der Schwedischlehrer war jedoch gerade mal weg. Der Niederländischlehrer war da. Wie gesagt: toeval.Uns soll’s recht sein, denn jetzt gibt es zahlreiche mit rumänischem Sprachgefühl eingedeichte Köge der niederländischen Literatur und Kultur, die den Gütesiegel eines Mannes tragen, der sich zufälligerweise auf das versteht, was er so treibt. An der Universität Bukarest hat der Dozent Gheorghe Nicolaescu jedenfalls sein eigenes Revier. In der Buchreihe „GGR-Beiträge zur Germanistik“ veröffentlichte er etwa einen Band über sein Steckenpferd: „Ţările de Jos - Cultură şi civilizaţie (Die Niederlande – Kultur und Zivilisation)“. Er unterrichtet, übersetzt, forscht, denkt nach, wundert sich, regt an: stets mit Gefühl.
Doch vor dem Niederländischen kam ja sozusagen das Deutsche: Im Anschluss an seine Ausbildung in Leipzig unterrichtete der Germanist in den Achtzigern Deutsch am Gheorghe-Lazăr-Lyzeum in Bukarest. Seine Überzeugung, dass in Texten Leben steckt, seine Fähigkeit, Wörter zu zählen, Worte zu wiegen, Textmassen einzuatmen, auszuhauchen, zu formen, seine leidenschaftliche Hingabe an den Beruf, an die Berufung der schreibenden Spezies, der kommunizierenden Spezies, sein offener Blick, sein ironisches (oder eben oft lediglich amüsiertes) Schmunzeln, seine Hoffnung, seine Beständigkeit, sein Mut, seine Kraft ... stimmt, das hört sich jetzt schon fast wie ein Weihnachtslied an, und dabei sollte es doch nur ein Loblied sein, wohlgemerkt ein sehr aufrichtig gemeintes. Ein Kilo Brecht, zwei Mödeli Dürrenmatt, drei Stück Canetti (oder waren es nur „Die gerettete Zunge“ und „Die Fackel im Ohr“?) u. v. m. ließ der Lehrer, der Leser, der Übersetzer aus seinem Regal in Richtung Schülerschaft wandern.
Eine gewisse Intensität in den Augen des Niederlandisten lässt seinen Spürsinn in der Ermittlung sprachlicher, literaturwissenschaftlicher wie allgemein-geisteswissenschaftlicher Befunde durchblicken, seinen Sinn für die Debatte, für den Austausch, für das Setzen von Fragezeichen, von Ausrufezeichen. Eine gewisse Intensität in seinen Augen verrät die Lust des Jägers, sich an den Sinn seiner Begriffe heranzupirschen, das volle Herz in der Brust, die Entschlossenheit, den Bleistift aufs blanke Blatt zu werfen, die Freude, das Schwarze getroffen zu haben, die Genugtuung, die Dinge richtig anpacken zu können, die Einsicht, dass ein jeder Satz im gegebenen Kontext sinngemäß und stilistisch adäquat klingen muss. Ein frischer Blick, der ins Weite geht. Ein freier Blick, der vieles hält. Und die Ahnung, nein, die Gewissheit macht sich breit: Hier findet ein kleiner Licht-Handel statt.„Gefühl ist alles“ (und Goethe ist nie weit).
Nachdem der Bukarester Germanist und Niederlandist Gheorghe Nicolaescu vor ein paar wenigen Jahren Anne Franks Tagebuch für den Humanitas Verlag ins Rumänische übersetzt hatte, betonte die Vertreterin des Verlags, dass es ihm überraschenderweise gelungen sei, in seiner Übersetzung der Perspektive des Kindes gerecht zu werden und dass er das, was Anne Frank zu sagen hatte, gleichsam frisch aus ihrer Seele heraus auf Rumänisch formulierte, und nicht aus der Perspektive des Erwachsenen, des erfahrenen Dozenten, des bedachtsamen Übersetzers. Am allerliebsten hätte er das Buch nie übersetzt, am allerliebsten hätte er ein Menschenleben gerettet, so der Übersetzer selbst beim Launch des Tagebuchs: das Leben der Autorin. Doch dies war ihm nicht möglich.
Die Windmühlen der Literaturwissenschaft, die Windmühlen der Translationswissenschaft mahlen in Bukarest. Es ist unwesentlich, wer sie betreibt, würde der Müller selbst sagen. Dass die Arbeit richtig getan wird, allein darauf komme es an. Rettenkönnen, das beginnt bei allerkleinsten Vokabeln.
Gheorghe Nicolaescu ist nicht allein mit seinen Texten.