Hypnotische Auszeit

ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher

„Auerhaus“ von Bov Bjerg kann in der Bibliothek des Goethe Instituts Bukarest, Calea Dorobanţi 32/ Pavilion, www.goethe.de/bukarest ausgeliehen werden und ist hierzulande außerdem im Schiller Verlag erhältlich: www.buechercafe.ro
Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen.

Vier Achtzehnjährige im Abi-Fieber, zu denen sich bald der amischlittenfahrende Elektriker Harry und die skurrile, verwirrend schöne Pauline aus der Klapse gesellen: Das Haus ist nun voll, alle Zimmer belegt im verlassenen Landhaus des verstorbenen Großvaters von Frieder. Mit dem letzten Schuljahr endet für die vier Gymnasiasten bald auch ein wichtiger Lebensabschnitt. Wie es weitergeht? Was kommt, kommen soll oder ja bloß nicht? Alles noch in weiter Ferne. Die Zeit im Auerhaus hält das atemlose Hasten auf den Etappen Geburt – Schule – Arbeit - Tod auf wundersame Weise an. Im Hier und Jetzt drängt sich ihre verrückte, selbstgeschaffene Zwischenwelt in den Vordergrund, ver-rückt im wahrsten Sinne des Wortes vor dem Rahmen des dörflichen Alltags am Rande ihrer biederen Kleinstadt. 

Und es gibt ein Ziel, das die vier ungleichen Freunde vereint: Die reiche, behütete Cäcilia, die ausgeflippte grünhaarige Vera und Höppner, der Ich-Erzähler, dessen Vorname ein Geheimnis bleibt: Sie sind die Klassenkameraden von Frieder, der gerettet werden muss. Es war zuerst Höppner, der es nicht gut fand, dass Frieder nach dem Suizidversuch allein in das verlassene Haus ziehen sollte, nachdem der Arzt empfohlen hatte, er solle besser nicht mehr bei den Eltern wohnen. Was, wenn er es wieder tun würde? Die Frage kreist allen im Kopf. Höppner würde mit ihm einziehen. Ein guter Grund obendrein, dem fiesen Freund seiner Mutter aus dem Weg zu gehen. Am besten zusammen mit Vera, denn allein schien ihm die Verantwortung zu groß. Nur, dass Veras Eltern etwas dagegen hatten, sie mit zwei Jungen allein in eine Wohngemeinschaft zu entlassen. So kam Cäcilia ins Spiel. 

Mit dem Traktor klappert Bauernsohn Frieder die Häuser der Freunde ab: Matratzen, eine alte Stehlampe und Koffer fliegen auf den Hänger. Was braucht man schon zum Leben? Nur Cäcilia schafft es nicht, gegen den Umzugswagen aufzubegehren, den ihr die Eltern hinterherschicken. Als der Traktor am Auerhaus ankommt, steht ihre zierliche weiße Kommode aus dem Mädchenzimmer schon im Hof. 

Der erste gemeinsame Abend in der Küche: Ein Schlager dröhnt aus dem Radio, Refrain: „Our House“. Der Nachbar, der die vom Großvater einst geliehene  Axt zurückbringt, horcht aufmerksam auf und folgert: Ah,  Auerhaus! Das kommt wohl von Auerhahn… 

Vera und Höppner streichen ihre Zimmer knallig orange. Frieder streicht seines blau-weiß wie Griechenland, trinkt geklauten Imyglykos aus dem „Nudelwalker“ - so heißen die Flaschen, nachdem man beim Kekse backen gemerkt hatte, dass dem Haus das Nudelholz fehlt. Dazu gibt es fast täglich Zaziki, weil Höppner statt fünf Zehen Knoblauch fünf Knollen in einen Becher Joghurt gepresst hatte, weswegen Vera eimerweise Joghurt ergänzte und das Ganze portionsweise einfror. Griechenland kann schließ-lich überall sein. Weiße Inseln im blauen Meer, Sonne. Freiheit. Auszeit.

Der Alltag: Über die Felder zur Schule radeln, vorneweg der dicke Frieder im wallenden gelben T-Shirt, die anderen umtanzen ihn wie Planeten ihr Zentralgestirn. Durchquatschte Nächte in der Küche. Verrückte Partys. Fischstäbchen braten - und jede Menge leere Nudelhölzer. Pauline erteilt Lektionen im Holzhacken. Harry fängt mit Vera etwas an, um herauszufinden, ob er wirklich schwul ist. Höppner schmollt über dem Ergebnis der Musterung: wehrtauglich, ach du Schreck!  Zwischendurch Schulroutine, Klausurenstress. Was über alledem ständig schwebt, ist die Frage nach dem Sinn des Lebens. Nach Tod und Freitod. Warum hat er es getan? Wird er es wieder tun? Was ist die Logik dahinter? Würde man, wenn man die Wahl hat, sich nicht für die Variante entscheiden, die die meisten Wahlmöglichkeiten böte, sinniert Höppner? Also, sich nicht umzubringen, denn nur dann könne man es zu einem späteren Zeitpunkt noch tun.

Auf der Suche nach dem Sinn verleiht der Unsinn trügerische Glücksmomente: Klauen im Supermarkt. Ein gefällter öffentlicher Weihnachtsbaum. Ein gestohlener Aktenordner, mit dem die Einberufung Höppners verhindert werden soll. Ein fiktives nächtliches Geballere, das beinahe schief geht, beendet die hypnotische Auszeit aus dem wirklichen Leben. Ein Duell gegen Lebensangst und Einsamkeit. Ein Knall - und der verschobene Rahmen springt in die Normalwelt zurück. Vergeblich versucht Höppner noch, sich und dem Leser ein Happy End vorzugaukeln, das in haltlosen Kitsch entgleist. Das Mahlwerk Geburt-Schule-Arbeit-Tod ruckelt unbarmherzig wieder an… Jetzt muss jeder eine Entscheidung treffen. 

„Wir hatten immer so getan, als ob das Leben im Auerhaus schon unser richtiges Leben wäre, also ewig. Frieder sagte: Du hast die Augen zu und treibst auf deiner Luftmatratze, ein sanfter Wind weht und du denkst, geil, jetzt lebe ich für den Rest meines Lebens hier in dieser Lagune, in der Südsee. Und dann machst du die Augen auf und merkst, es ist bloß ein Nachmittag am Baggersee, und zack ist der auch schon vorbei.“


Der Autor Bov Bjerg - bürgerlich Rolf Böttcher - wurde 1965 in Heiningen geboren und wuchs in der Schwäbischen Alb auf. Sein Pseudonym wählte der Schriftsteller und Kabarettist nach der schwedischen Stadt Bovbjerg. Sein Bestseller „Auerhaus“ fungierte als Grundlage für den gleichnamigen Erfolgsfilm im Jahr 2019.  Weitere Veröffentlichungnen von Bov Bjerg sind „Deadline“, „Die Modernisierung meiner Mutter“ (Geschichten) und der Roman „Serpentinen“, der es 2020 auf die Shortlist des deutschen Buchpreises schaffte.