Anlässlich des 300. Geburtstages des berühmten deutschen Opernkomponisten Christoph Willibald Gluck hat die Stuttgarter Staatsoper am letzten Wochenende der soeben zu Ende gegangenen Saison und als deren krönenden Abschluss ein Gluck-Wochenende veranstaltet. Vorträge zu Glucks Choropern, zu seiner Gesangsästhetik und zu seinem Opernschaffen im zeitgenössischen Kontext standen ebenso auf dem reichhaltigen Programm wie ein Liedkonzert mit Werken dreier Komponisten, die allesamt im Jahre 1714 geboren wurden: Christoph Willibald Gluck, Carl Philipp Emanuel Bach und Niccolò Jommelli.
Auch drei Stuttgarter Inszenierungen von Gluck-Opern, alle in französischer Sprache, wurden an besagtem Wochenende dem zahlreichen Publikum präsentiert: Eine Filmvorführung der Gluckschen „Alkestis“, die seinerzeit mit dem Prädikat „Aufführung des Jahres 2006“ ausgezeichnet worden war, sowie – live auf der Opernbühne des Großen Hauses – die beiden Gluck-Opern „Orpheus und Eurydike“ (Premiere 2009) und „Iphigenie in Aulis“ (Premiere 2012).
Christoph Willibald Gluck war ein Star unter den Opernkomponisten seiner Zeit. Auf der Fränkischen Alb als Sohn eines Försters geboren, suchte er bald sein Glück in der weiten Welt. Heimlich verließ er noch als Jugendlicher sein Elternhaus mit dem Fernziel, eines Tages in eines der großen Zentren europäischer Musik zu gelangen: nach Wien. Des Gesangs sowie des Spiels auf mehreren Instrumenten kundig, verdiente er seinen Lebensunterhalt durch Musik.
In Prag studierte er Anfang der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts Logik und Mathematik. Über Wien führte ihn sein Lebensweg dann weiter nach Italien, wo er von Giovanni Battista Sammartini Kompositionsunterricht erhielt. Im Jahre 1741, Gluck war damals 27 Jahre alt, wurde in Mailand seine erste Oper „Artaxerxes“ uraufgeführt, der ein halbes Hundert weiterer Opern folgen sollte. Weite Reisen führten den aufstrebenden Komponisten nach London, Dresden, Wien, aber auch in zahlreiche Städte, die über kein eigenes Opernhaus verfügten und deshalb auf Vorstellungen von Wanderbühnen angewiesen waren, denen Gluck als Reisender in Sachen Musik sich zeitweise anschloss.
Der Einfluss von Glucks Gesangsschülerin, der späteren französischen Königin Marie Antoinette, sorgte dafür, dass der inzwischen weithin bekannte Komponist einen Vertrag mit der Pariser Oper über sechs musikdramatische Werke aus eigener Feder abschließen konnte. Die erste dieser französischen Opern war „Iphigénie en Aulide“, die am 19. April 1774 in Paris uraufgeführt wurde. Wenige Monate später, am 2. August 1774, folgte, ebenfalls in Paris, die Uraufführung von „Orphée et Euridice“, einer von Glucks sogenannten Reformopern, die in ihrer italienischen Fassung „Orfeo ed Euridice“ bereits ein Dutzend Jahre zuvor, am 5. Oktober 1762, in Wien uraufgeführt worden war.
Die Stuttgarter Inszenierung der französischen Fassung von „Orpheus und Eurydike“ radikalisiert eine Idee, mit der sich Gluck seinerzeit von der italienischen Operntradition abzusetzen bemühte. Für Gluck war die Oper, karikierend ausgedrückt, keine bloße Folge von bravourösen Gesangsnummern höchst virtuoser Sänger, sondern – ein Gedanke, der bereits auf Wagner vorausdeutet! – ein bewegtes musikdramatisches Geschehen, das sich einheitlich und kontinuierlich vor den Augen und Ohren des Publikums abspielt. Dementsprechend wird auch das Ballett, das ursprünglich aus der höfischen Tradition stammt, von Gluck anders bewertet: Es entspringt aus der Opernhandlung, nimmt an ihr teil und bereichert sie.
Diesem Prinzip gemäß hat Christian Spuck, der Regisseur und Choreograf der Stuttgarter Inszenierung, Balletttänzer und Chorsänger bunt durcheinander gemischt, sodass sich dem Zuhörer und Zuschauer erst nach und nach erschließt, wie Körper und Stimme auf der Bühne zusammenwirken, zumal sich manche Sänger auch als veritable Mimen und Tänzer erweisen.
Dieses „Gleichgewicht von Tanz und Gesang“, das Christian Spuck seiner Ballettopernproduktion zugrunde gelegt hat, lässt sich vor allem an der Pariser Fassung von „Orpheus und Eurydike“, die über eine halbe Stunde länger dauert als die Wiener Fassung und für die Gluck außerdem ein Ballett nach dem Geschmack des Pariser Publikums hinzu komponiert hatte, sehr schön demonstrieren, und ganz besonders schön an der am 26. Juli gezeigten bravourösen Stuttgarter Inszenierung, wo die sängerischen Protagonisten Orphée (Luciano Botelho), Euridice (mit ihrem auf die beiden Sopranistinnen Irma Mihelic und Meike Hartmann verteilten Part) und L’Amour (Maria Koryagova) zusammen mit dem Stuttgarter Staatsopernchor, den Solisten und dem Corps de ballet des Stuttgarter Balletts zu den Klängen des Stuttgarter Staatsorchesters unter der musikalischen Leitung von Nicholas Kok ein harmonisch in sich gerundetes Gesamtkunstwerk präsentierten.
Nicholas Kok war auch der Dirigent der am 25. Juli im Stuttgarter Großen Haus aufgeführten Gluck-Oper „Iphigenie in Aulis“, die freilich keine Ballettoper darstellt. Gleichwohl setzte Andrea Moses, die Regisseurin der Stuttgarter Inszenierung, den Staatsopernchor in ständig wechselnden Bildern und Gruppierungen effektvoll in Szene, besonders gelungen in dem dramatischen Moment, wenn der Chor mit geblähten Segeln das Schiff der Griechen bevölkert, die in Aulis vergeblich auf günstige Winde warten, um gen Troja zu fahren. Auch die Gesangssolisten begeisterten in dieser Aufführung, vor allem Marina Prudenskaja als Klytämnestra, Mandy Friedrich als deren Tochter Iphigenie, Andrew Schroeder als deren Gatte Agamemnon, ferner Ronan Collett als der griechische Seher Kalchas und last but not least der im siebenbürgischen Niklasmarkt/Gheorgheni geborene, in Großwardein/Oradea ausgebildete, über Temeswar und Wien an die Stuttgarter Staatsoper gekommene Tenor Gergely Németi als Achill.
Es wäre zu wünschen und bleibt zu hoffen, dass auch in Zukunft in Stuttgart (und an bedeutenden Opernhäusern anderer deutscher Städte) solche kompakten Wochenenden veranstaltet werden, in denen Werk und Wirkung berühmter Opernkomponisten derart kondensiert präsentiert und exemplarisch beleuchtet werden, wie dies beim Stuttgarter Gluck-Wochenende der Fall war.