„Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.“ Einer? Nein! Hier muss man einhaken und auf doppeltem Verrat bestehen, schließlich stehen doch die Namen der Jünger Petrus und Judas Beweis dafür. Johann Sebastian Bachs „Mat-thäus-Passion“ BWV 244 für Solisten, zwei Chöre und zwei Orchester möchte sich stets zweifach rückversichern und übertraf einschließlich am Sonntag, dem 15., Juli, in der Schwarzen Kirche in Kronstadt/Bra{ov sämtliche düsteren Vorahnungen Jesu Christi, der unter mehrfach verräterischem Druck böser Buben einknicken muss. Da hat kein Bibliolog, kein philosophisches Experimentieren und kein Brainstorming auch nur den Hauch einer Chance, dem Libretto der Matthäus-Passion einen unbändigen Lichtstrahl abzuringen. Visionäre Blicke über das c-Moll des Schlusschores „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ hinaus entdeckt man allenfalls im Finale des ersten Teiles, wenn auf eines der berühmtesten Blitzgewitter der abendländischen Musikgeschichte Zitate wie „O Mensch, bewein dein Sünde groß“, oder „Den Toten er das Leben gab“ folgen, die sich in die strahlende Tonart E-Dur verirrt haben.
E-Dur, eine Tonart gleichbedeutend mit sage und schreibe vier Kreuzen, die man gerne als Wegweiser Richtung Himmel wahrnimmt. Letzte Verschnaufpause auch während der Aufführung der Matthäus-Passion in der Schwarzen Kirche am vergangenen Sonntag, denn der zweite Teil, „Pars seconda Passionis Christi secundum Matthaeum a due Chori per J. S. Bach“, ist berüchtigt für seine Länge und den permanenten Spott der Schrei-Chöre, die einen den musikalisch inszenierten Fatalismus lieben lehren, man möchte es glauben oder nicht. Vier Vorzeichen gleichzeitig? So etwas gibt der Kreuzweg des zweiten Teiles nicht her. Eine Ausnahme bildet lediglich die direkte Rede des Hauptmannes und seiner Kumpanen, die das Nachbeben infolge des irdischen Aufbäumens nach dem letzten Atemzug Christi als verklärendes Zeichen werten: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Knappe drei Takte lang hat man Zeit, das As-Dur und dessen vier B-Vorzeichen zu genießen, und Spuren eines Wahrheitsgehalts zu erahnen.
Aus dem Nichts tauchte dieses schönste As-Dur der Welt auf, und im Nullkommanichts war es auch wieder weg. Steffen Schlandt, Organist und Kantor der evangelischen Kirchengemeinde A.B. Kronstadt, der Chor „Lux Aurumque“ sowie das international besetzte Kammerorchester des Festivals für Alte Musik Szeklerburg/Miercurea Ciuc und der Kronstädter Bachchor hatten sich gemeinsam und intensivst auf die Aufführungen in Bukarest, Szeklerburg und Kronstadt vorbereitet (die ADZ berichtete am Samstag, dem 7. Juli). Alle gründlich durchgeführte Probenarbeit mündete in eine ausgewogene Darbietung der Matthäus-Passion.
Obwohl auch Bach handwerklich nicht aus der Reihe tanzt und dieselben Töne verwendet, die auch andere vor und nach ihm auf Papier notiert haben, nimmt sich die dreistündige Matthäus-Passion als geistiges Leistungsexamen aus. Sie hat stets mehr anzubieten als die Summe aller Menschen, die sich an dieses Stück heranwagen. Eine vollständige Deckungsgleichheit zwischen eigener Interpretation und gedruckten Noten zu erreichen, ist in diesem Fall ein Ding der Unmöglichkeit und wird es immer bleiben. Im Chorraum der Schwarzen Kirche jedoch offerierten das große Chor- und Orchesterensemble unter der Leitung von Steffen Schlandt ein Beispiel dafür, dass man sich der Matthäus-Passion entgegen all ihrer immensen Messlattenhöhe erstaunlich weit nähern kann. Eine akkurate Textverständlichkeit legten die Chormitglieder in den Chorälen und sämtlichen Bibelwortsätzen in die Waagschale. Unbedingte Erwähnung verdient auch der sauberst tönende Kinderchor, dessen junge Mitglieder aus Kronstadt und Szeklerburg sich eigens für diese Aufführung zusammengeschlossen hatten, um den unbefleckten Cantus firmus des Eingangschores, „O Lamm Gottes, unschuldig“, sowie die Choralzeile des Schlusssatzes des ersten Teiles mitzuinterpretieren.
Auch der Kronstädter Bachchor und der Chor „Lux Aurumque“ Szeklerburg ließen intonatorisch nichts anbrennen. Vom allerersten Choreinsatz im Eingangschor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ bis zum „Ruhe sanfte, sanfte ruh!“ des Schlusschores spannten sich die ausdauernden Stimmen sämtlicher Chormitglieder. Die eine oder andere Person mag zu der Kategorie Berufsmusiker gezählt haben, etliche andere Chormitglieder wiederum nicht. Von Natur aus enorm durchsetzungsfähig sind die Singstimmen Einzelner, während andere Personen wiederum langes Training benötigen, um den Chorklang entscheidend mittragen zu können. Und nebenbei muss man lernen, sich selber bei Bedarf anstandslos klanglich zurückzunehmen. Steffen Schlandt ist es geglückt, einen homogenen Chorklang zu formen, der die lange Aufführungsdauer der ungekürzten Matthäus-Passion souverän stemmen kann. Neidlos muss man anerkennen, dass die Kirchenmusikszene Siebenbürgens und Rumäniens nicht Feineres als den Kronstädter Bachchor und dessen Einzugsgebiet vorweisen kann.
Einigen wenigen Chorpassagen fehlte hie und da ein zusätzlicher Tick Leichtigkeit, wodurch aber der wegweisende Charakter der Aufführung nicht geschmälert werden soll. Der kurzen und schmerzlosen Entlarvung des leugnenden Petrus zuliebe hätte die chorische Antwort „Wahrlich, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich“ eine dynamisch zusätzlich leisere Spur und ein schnelleres Tempo vertragen. Doch darf man den begeisterten Könnern aus Kronstadt und Umgebung fairerweise keinen Strick aus derartigen Kleinfragen drehen, da gewisse technische Singfähigkeiten tatsächlich nur von Berufschören gefordert werden können.
Steffen Schlandt bewältigte die Aufgabe der musikalischen Gesamtleitung mit nüchterner Führungskraft und gestaltete die Mat-thäus-Passion zum gänzlichen Gegenteil einer bombastisch und monumental angelegten Aufführung. Die historischen und originalgetreu nachgebauten Streich- und Holzblasinstrumente der Orchestermitglieder mischten sich zu einem spezifischen barocken Klang, der überall auf der Welt an Wichtigkeit zunimmt und nun auch Einzug in die Schwarze Kirche hält. Unübersehbar ist die Kompetenz Steffen Schlandts, der als Hauptverantwortlicher couragierte Entscheidungen traf. So zum Beispiel verzichtete er weitestgehend darauf, die Rezitative der Continuo-Gruppe zu dirigieren, und während der Arie „Buß und Reu“ zog er es vor, konsequent taktweise zu schlagen und auf jegliche Unterteilung des Dreiachteltaktes zu verzichten. Vielsagend das perkussive Streicher-Rezitativ „Erbarm es Gott“ als Begleitung für Solistin Susanne Langner (Alt), zu deren Imperativ „Haltet ein!“ der Dirigent totalen Verzicht auf Ritardando seitens der peitschenden Streichbögen vorgab. Steffen Schlandts geistige Handschrift war die gesamte Aufführung hindurch allgegenwärtig.
János Szerekován (Tenor) gab einen fähigen Evangelisten, und Matthias Weichert (Bariton) aufgrund seiner schier zahllosen Erfahrungen mit Bachs Matthäus-Passion einen auswendig zitierenden Christus, der das Langhaus der Schwarzen Kirche mit seiner Stimme füllte. Obwohl Deutsch nicht seine Muttersprache ist, ging Nicolae Simonov (Tenor) recht geschickt und nicht allzu donnernd an die schwierigen Arien „Ich will bei meinem Jesu wachen“ und „Geduld, wenn mich falsche Zungen stechen“ heran. Sattes Lob gebührt der jungen Solistin Renáta Gebe-Fügi (Sopran), deren Auftritt man bisherige Erfahrungen intensiven Orchesterspiels deutlich anmerkte. Eine künftige Sängerin von derartiger Begabung und Fähigkeit braucht en Schritt in die freischaffende Selbstständigkeit wahrlich nicht zu fürchten.
Einen deutlichen Qualitätsabbruch erlebte die Aufführung der Matthäus-Passion in der Schwarzen Kirche durch die Beteiligung des Sängers Dan Popescu (Bass) in führender Solo-Position. Das „süße Kreuz“ in der Arie mit Begleitung der Viola da Gamba und die „süße Ruhe“ in der allerletzten Arie des dreistündigen Passions-Epos aus der Tonwerkstatt Johann Sebastian Bachs fanden überhaupt keine raffinierte Entsprechung in der Stimme von Dan Popescu, der jeweils um große Lautstärke und so gut wie gar nicht um geistige Feinfühligkeit während des Singens bemüht war. Schade, dass so eine wichtige Partie der Matthäus-Passion von einem Sänger bestritten wurde, dessen Stimmgebung für die Erweckung zum Leben des Bach´schen Erbes alles andere als geeignet ist. Und noch weitaus trauriger, dass Dan Popescu allem Anschein nach mit zum Besten gehört, was der rumänische Sängermarkt für das deutschsprachige Oratorienfach anzubieten hat.
Ein verborgenes, aber doch öffentlich sichtbares Detail stellt die Frage nach dem Aufführungsmaterial dar. Dass einzelne Chormitglieder kostengünstig kopierte Klavierauszüge und Chornoten in ihren schwarzen Mappen liegen hatten, kann noch als vertretbar angesehen werden. Doch darf es für Hauptbeteiligte, die eine Solo-Position ausfüllen und in vorderster Reihe direkt vor dem Publikum stehen, nicht zur Debatte stehen, ob man zu kopiertem Notenmaterial oder doch lieber zum originalen Verlagsdruck greift. Aus Gründen des guten Tons gilt letzteres als zwingend und alles andere als tunlichst zu vermeidendes Sakrileg. Dan Popescu hielt in seinen Händen einen kopierten Klavierauszug, wofür ein Solist der Bach´schen Matthäus-Passion gerügt werden könnte. Sollte Dan Popescu dies hingegen für einen normalen Umstand gehalten haben, wäre es Aufgabe des Dirigenten Steffen Schlandt oder zumindest eines tugendhaften Chormitglieds oder Orchestermusikers gewesen, dem Mangel an qualitativem Aufführungsmaterial abzuhelfen. Anders als noch vor gut 20 Jahren trifft es aktuell auch für rumänische Musiker nicht mehr zu, dass einem der Zugang zum westeuropäischen Musikalienhandel verwehrt bleibt, und man weder über logistische noch finanzielle Mittel verfügt. Die Zeiten vormaliger Sparsamkeit sollten längst gegessen sein.
Aus künstlerischer Sicht steht, bis auf wenige Ausnahmen, die Aufführung der Matthäus-Passion von J. S. Bach in der Schwarzen Kirche durch den Kronstädter Bachchor, den Chor „Lux Aurumque“ und das Orchester des Festivals für Alte Musik Szeklerburg und sechs erwähnten Solisten unter der Gesamtleitung von Steffen Schlandt den Oratorienaufführungen in der Dresdner Kreuzkirche und der Leipziger Thomaskirche in nichts nach. Das musikalische Niveau der Kronstädter Aufführung war außergewöhnlich. Im Bereich der papierenen Infrastruktur jedoch wären etliche, aus Nachlässigkeit begangene Fehler zu vermeiden gewesen. Eine kirchliche Gemeinschaft, die sich um das immaterielle und geistige Erbe Johann Sebastian Bachs verdient machen möchte, sollte in Sachen Notenmaterial ausschließlich auf das Beste vom Besten zurückgreifen. Es gilt, auf Drucksachen international führender Musikverlage hinzuweisen, und den Verzicht auf billige Imitate hochwertigen Aufführungsmaterials als Bedingung festzulegen.