Die erste Porträtaufnahme eines Kindes offensichtlich türkischer Herkunft mit einem schöngeflochtenen Haarzopf aus Skopje im Dezember 1918 des berühmten amerikanischen Fotografen Lewis Hine erscheint zunächst nicht ungewöhnlich. Bis man die Bildunterschrift liest und begreift, hier ist nichts, wie es scheint. Dieser kleine Junge trägt seine Zöpfe im Andenken an seine verstorbenen Schwestern. Lewis Hine, der auf dem Balkan für das Amerikanische Rote Kreuz arbeitete, wurde bisweilen vorgeworfen, seine Bilder seien nicht drastisch genug, um auf das Elend der Kinder aufmerksam zu machen. Und in der Tat: Es gibt drastischere Bilder in dieser Ausstellung.
Aber in dieser kleinen, kindlichen Geste steckt so viel persönliche Trauer, dass der Betrachter unwillkürlich eine Ahnung von dem Leid der Kinder erhält, die in diesem Krieg leben mussten. Vertreibung, Flucht, Armut, Hunger und Tod, das Leid der Zivilbevölkerung begleitete anders als an der Westfront, wo sie zunächst von den Kampfhandlungen eher verschont blieb, das Kriegsgeschehen auf dem Balkan unmittelbar. Aus der Sicht von fünf Fotografen, Ariel Varges aus Großbritannien, Lewis Hine aus den USA , Sampson Tchernoff aus Russland und je einem anonymen Kriegsfotografen aus Deutschland und Frankreich lassen sich die Folgen des Krieges auf die Bevölkerung nachvollziehen.
Während für Hine das Leben der Kinder, arbeitend auf der Straße oder auf der Flucht vor den Kriegstruppen, im Vordergrund steht, dokumentiert ein unbekannter französischer Kriegsfotograf die Belagerung von Bitola/Monastir, einer Stadt zwischen den Fronten in Makedonien, die über zwei Jahre dem Bombardement und den Gasangriffen der Mittelmächte ausgesetzt war.
Einige Fotografien zeigen die Opfer aufgebahrt in ihren noch offenen Särgen, darunter viele Kinder, während ihrer Beerdigung, die je nachdem, mal nach muslimischem, mal nach christlichem Ritus erfolgte.
Anders als bei den Balkankriegen von 1912 und 1913, bei denen es sich um regional begrenzte Kriege gegen die Vorherrschaft des osmanischen Reiches auf dem Balkan bzw. nationale Landgewinnkriege handelte, zeigt die Landung der Ententetruppen Frankreichs und Britanniens im Hafen von Saloniki 1915 die Dimension des Weltkrieges. Koloniale Truppenverbände aus Asien und Afrika bildeten die höchst inhomogene „Armée d’Orient“ unter französischer Führung . Der Brite Ariel Varges dokumentiert jedoch nicht nur dieses bunte Völkergemisch in den Gassen und auf den Quais von Saloniki, sondern auch die Auswüchse moderner Kriegsführung . Besonders bizarr das Foto indischer Truppen, die sich auf einen Gaskrieg vorbereiten.
Die anlandenden Truppen im Hafen von Saloniki konnten jedoch den dramatischen Rückzug der serbischen Truppen, die sich durch Montenegro und Albanien zurückziehen mussten und dabei bis zu 80.000 Mann verloren, nicht verhindern. Keine moderne Kriegsführung, sondern der harsche Winter, Hunger und unzureichende Logistik – man kämpfte überwiegend zu Pferde und als wichtigstes Transportmittel diente der Ochsenkarren – dezimierten die serbische Armee. Als eine Dokumentation des Scheiterns und der Verzweiflung könnte man die Fotografien des Russen Sampson Tchernoff bezeichnen , der die Soldaten auf diesem Zug mit seiner Kamera begleitete.
Dagegen nehmen sich die Bilder des deutschen Kriegsfotografen fast heiter aus, wenn auch nur auf den ersten Blick. So die Aufnahme: „Ein gut aufgelegter deutscher Soldat überwacht eine Warteschlange von Zivilpersonen vor einem Laden in Serbien“. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man, dass mindestens die Hälfte der Frauen hier barfuß im Matsch steht; sicherlich nicht zu ihrem Vergnügen. Ob sie an diese ärmlichen Verhältnisse gewöhnt waren? Wir wissen es nicht.
Allerdings, wie bereits erwähnt, begann das Kriegsgeschehen nicht erst 1914, sondern zumindest mit dem Balkankrieg von 1912, und für manchen Historiker endete er auch nicht 1918. Die große griechisch-türkische Tragödie mit der oft zu harmlos als „Bevölkerungsaustausch“ bezeichneten Vertreibung der Griechen aus Anatolien und Türken aus Griechenland, ereignete sich als unmittelbare Folge 1922, um nur eines der bekannteren Beispiele zu nennen.
Eine Annäherung an die historischen Ursachen und Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf den Balkan und seine Völker bieten die Videostatements von 12 Historikern aus unterschiedlichen Ländern, die an vier Monitoren in der Ausstellung konsultiert werden können. Der bekannteste aus dieser illustren Runde dürfte wohl Christopher Clark durch sein Buch „Die Schlafwandler“ sein. Allerdings haben gerade seine Thesen zum Ersten Weltkrieg in Belgrad den größten Protest hervorgerufen, was nur zeigt, dass es eine einheitliche Bewertung sicher lange nicht geben wird.
Interessant auch in diesem Zusammenhang sind daher die Einlassungen der serbischen Historikerin Dubravka Stojanovic über das kontroverse Verhältnis des monokulturell ausgerichteten Serbien zum ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien oder die Bemerkungen Edhem Eldems über die Transformation des einst kosmopolitischen Istanbul. Dass die Entwicklung des Balkans sicher noch nicht als abgeschlossen gelten kann, vertieft Christina Koulouri aus Athen mit ihrem Resumé der letzten 100 Jahre, das zugleich einen, wenn auch unbequemen Ausblick bietet. Aus Athen stammt auch das Konzept dieser Ausstellung, die aus einer Zusammenarbeit des Goethe-Instituts Athen mit dem British Council Greece und Anemon Productions hervorging . Ebenso kann das Thema bei einer Filmvorführung aus derselben Produktion in der sich anschließenden Diskussion mit den rumänischen Historikern Prof. Dr. Bogdan Murgescu und Dr. Bogdan Popa am 14. Mai vertieft werden. Für die Aufbereitung und Präsentation in Bukarest zeichnet das hiesige Goethe-Institut in Partnerschaft mit ARCUB, dem Kulturzentrum der Stadt Bukarest verantwortlich. Eine besondere rumänische Note erhielt die Bukarester Ausstellungseröffnung durch den Auftritt zweier Rumänen, die in zeitgenössischer Uniform der Königlichen Rumänischen Armee die Eröffnungsrede von Beate Köhler, Leiterin des Goethe-Instituts, flankierten.
„Krieg und Frieden auf dem Balkan“. ARCUB, Hanul Gabroveni, Sala Coloanelor, Str. Lipscani nr. 84 – 90, Sala Coloanelor. 17.4. - 15.5.2015. Öffnungszeiten: Mo.-So. 12 – 20 Uhr. Filmvorführung mit anschließender Diskussion: „War & Peace in the Balkans”, 14.5.2015, 18 Uhr