Kronstädter Glücksritter

Über das schöne, schlaflose Leben der Kronstädter Künstler

Zweimal Bîra, einmal Basquiat: Die ikonenhafte Marina Bîra auf dem Bild; daneben die echte Marina im selbstbemalten Basquiat-T-Shirt.

Luminiţa Gliga vor einem ihrer wilden, farbigen Bilder.

Magda Vacariu neben einem Porträt ihrer Tochter.
Fotos: der Verfasser (2), privat (1)

Ein zierliches Mädchen Mitte zwanzig schleppt zwei große Bilder die abendliche Apollonia-Hirscher-Gasse entlang. Die Vorderseiten der Bilder hat sie aneinandergepresst; eine Hand umgreift die Schnittstelle der Holzstreben auf der Rückseite des äußeren Bildes, die andere drückt die Rahmen zusammen. Dabei lehnt sie den Kopf seitlich über die Bilder, damit der Niesel sie nicht benässt. Vor einem großen, grünen Gebäude stellt sie die Bilder auf die oberste Treppenstufe und zieht die Tür auf. Noch zwei Treppen, dann hat sie es geschafft. Kronstädter Künstler dürfen nicht mäkelig sein. Ihre Bilder durch Nieselregen zu tragen, gehört zu ihren angenehmeren Pflichten. Belastender ist, dass sie drei Berufe gleichzeitig ausüben müssen: Sie malen, vermarkten ihre Bilder und arbeiten in einem Brotberuf. Sie brauchen eine große Frustrationstoleranz und hoffentlich nicht viel Schlaf. Das zierliche Mädchen geht auf die Treppe zu. Im zweiten Stock findet ihr Malkurs statt, in dem sie ihre Lehrerin nach ihrer Meinung zu den Bildern fragen wird. Feedback ist im Moment besonders wichtig: Die junge Künstlerin möchte sich an der Nationalen Universität der Künste Bukarest bewerben.

Einzelkämpfer

Bildende Kunst steckt in dem Paradox, wichtig zu sein und zugleich unwichtig. Jedes Kind malt und zeichnet; es scheint ein natürliches Bedürfnis zu haben, sich bildlich auszudrücken, Wahrnehmungen festzuhalten. Doch schon in der Schule wird Kunst zum Fach für wenige; und für die meisten Erwachsenen ist Kunst höchstens Hobby. Die meisten vergessen, welche Freude sie als Kind am Kritzeln, Pinseln, Werkeln hatten und erinnern sich erst daran, wenn ihre eigenen Kinder klein und also Künstler sind. Die wenigen, die als Erwachsene Künstler bleiben, ziehen meist in die Metropolen, zu ihresgleichen. Sie wollen nicht die Außenseiter in einer Umgebung sein, in der Kunst Nebensache ist. Sie wollen zu denen, die Kunst machen, Kunst lieben, über Kunst nachdenken. Und, natürlich, zu denen, die Kunst kaufen. So sind die Hauptstädte der Länder oft die Hauptstädte der Kunst – im Rest des Landes malen Einzelkämpfer.

Cosmin Frunteş ist Kronstädter, studiert Kunst in Bukarest, danach weiß er nicht, wohin. Für junge Künstler gibt es keine Stellenangebote, keinen Arbeitsmarkt. Frunteş zieht zurück nach Kronstadt/Braşov. Hier wohnt er bis heute. Auch Luminiţa Gliga kommt aus Kronstadt, auch sie studiert in Bukarest. Nach dem Studium bleibt sie dort. Kronstadt sieht sie nur noch, wenn sie ihre Eltern besucht. Magda Vacariu stammt aus Jassy/Iaşi. Sie studiert in Bukarest Soziologie, zieht mit ihrem Mann nach Oxford, später nach Adelaide, in Australien. Dort studiert sie Kunst und kriegt eine Tochter. Die Familie zieht zurück nach Rumänien, nach Kronstadt, der „schönsten Stadt des Landes”, sagt Vacariu. Sie, Cosmin Frunteş und Luminiţa Gliga sind unterschiedliche Künstler, unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Wege gegangen. Und doch klingt es erstaunlich ähnlich, wenn sie davon erzählen, was es heißt, in Rumänien Künstler zu sein.

Kunstverkäufer

Wer etwas tut, dessen Geldwert unklar ist, der muss verkaufen können, sonst hat er ein Problem. „Kunst verkaufen ist auch eine Kunst“, wortspielt Magda Vacariu. Eine Kunst, die kaum jemand in Rumänien beherrscht. Das stellt die Künstler vor Herausforderungen.
Magda Vacariu, scheint es, hat ihren Weg gefunden. Sie unterhält eine professionell designte Homepage, einen Blog, einen Facebook-Auftritt. Außerdem präsentiert sie ihre Werke auf verschiedenen Online-Plattformen. „Am wichtigsten ist die Homepage. Mittlerweile habe ich Sammler, die regelmäßig meine Werke kaufen.“ Die Sammler leben auf verschiedenen Kontinenten, in Australien, in Amerika, in Europa. Doch die Verkäufe allein reichen nicht zum Leben. Montags und donnerstags gibt sie Malkurse in der Redoute, für Kinder und Erwachsene. Diese beanspruchen nicht nur Zeit, sondern auch Nerven. „Das hat weniger mit den Kindern zu tun als mit den Eltern. Manche denken, das eigene Kind sei ein Genie. Das kann sehr anstrengend sein. Andererseits gibt es in den Kursen ab und an riesige Talente. Das entschädigt mich für die Mühe.“

In diesem Moment kommt das größte Talent ihrer Malkurse zur Tür herein, zwei großformatige Bilder unter den Arm geklemmt. Marina Bîra besucht Vacarius Malkurse, seit eine Freundin ihre Bilder gesehen hat. Damals studiert sie noch Fremdsprachen, Englisch und Französisch, Malen ist ein Hobby. Die Freundin entdeckt die Bilder bei Marina zuhause und ist fassungslos: Sie müsse unbedingt Künstlerin werden, ein solches Talent dürfe sie nicht verschwenden! Marina nimmt sich die Worte der Freundin zu Herzen – und landet im Malkurs Vacarius. Diese erkennt ihr Talent und verschafft ihr bald eine erste Ausstellung. Bis heute ist Vacariu Bîras große Förderin; bis heute besucht Marina Vacarius Malkurse.
Sie schlängelt um die Staffeleien, die sich in den kleinen Raum drängeln. An jeder Staffelei malt ein Teilnehmer, zwei Männer und sechs Frauen. Sie tauchen ihre Pinsel in selbstgemischte Farbkleckse auf den Paletten, die neben ihnen auf Hockern liegen.

Dabei gucken sie auf einen von einer Stehlampe beleuchteten Tisch vorne im Raum: Auf diesem stehen nebeneinander zwei Gefäße: ein leuchtend blauer Wasserkrug und eine Vase, von der die orangene Farbe abblättert. Hinter ihnen erhebt sich ein zusammengeknautschtes grauweißes Tuch. Vacariu zeigt auf die Gemälde der Teilnehmerinnen: „Darum liebe ich die Kunst! In jedem Bild steckt so viel von der eigenen Persönlichkeit! Wenn zehn Künstler denselben Gegenstand malen, kommen zehn verschiedene Bilder heraus.“ Sie hat recht: Die Bilder unterscheiden sich in Proportionen, Farbe, Form – nichts bleibt von der Eigenwahrnehmung des Künstlers verschont. Beson-ders das Knautschetuch variiert von Bild zu Bild. Mal sieht es aus wie ein weißer Schleier, mal wie ein gelber Felsen in der Wüste.

Marina lehnt ihre Bilder vorne an die Wand, neben den beleuchteten Tisch. Vacariu geht drei Schritte zurück. „Unglaublich! Marina ist wahnsinnig talentiert. Ich kann mich gar nicht entscheiden, welches ich besser finde.“ Die Bilder sind Selbstporträts. Auf dem einen schaut sie traurig zu Boden, auf dem anderen traurig hinauf. Wobei – traurig ist nicht der richtige Ausdruck. Es ist eine Mischung aus Traurigkeit und Würde; der Gesichtsausdruck, mit dem Jesus manchmal gezeichnet wird. Als würde sie sagen: „Ich erkenne deine Schwäche, deine Schlechtigkeit, und sie macht mich traurig. Doch ich vergebe dir.“ Es ist tatsächlich ein bewegendes Bild. Vacariu schießt ein Foto: Marina zwischen ihren Selbstporträts. Sie lächelt nicht; trotzdem wirkt sie fröhlich. Wahrscheinlich wegen ihres T-Shirts, auf dessen schwarzer Farbe quietschbunte Zeichnungen von Basquiat leuchten. „Das T-Shirt hat sie selbst bemalt. Sie verkauft Kleider und Schuhe auf ihrer Homepage“, sagt Vacariu.

Eine gute Idee – Kunstkleidung. Wahrscheinlich hätte die Idee auch Basquiat gefallen – immerhin zeichnete dieser seine Gemälde zu Anfang seiner Karriere an öffentlichen Orten. Marina Bîra macht seine Kunst 25 Jahre nach seinem Tod tragbar. „Basquiat ist mein Lieblingskünstler. Seine Kunst ist so natürlich, als käme sie direkt aus ihm heraus.“ Auf die Kleidungsstücke malt sie verschiedene Motive seiner Bilder. Jedes T-Shirt wird so zu einem neuen Kunstwerk, einer Montage. Ein Feature-Kunstwerk: Basquiat à la Bîra. Doch bevor sie mit ihrer Kleidung Geld verdienen kann, muss sich herumsprechen, dass es diese Kleidung gibt. Bis dahin arbeitet auch Bîra in einem Brotberuf; momentan im Backoffice.

Goldgräber

Künstler-Sein bedeutet Leben im Wartezustand. In der Hoffnung auf das eine Bild, das alles verändert. Künstler sind Glücksritter. Wenige ziehen das große Los und können leben von dem, was sie lieben. Die anderen hoffen weiter. Und trösten sich derweil damit, dass sie das schönste Hobby der Welt haben.
Lumini]a Gliga ist radikal. Sie setzt alles auf eine Karte. Nach dem Studium bleibt sie in Bukarest, übt keinen Brotberuf aus, malt den ganzen Tag. Um Vermarktung, Verkauf, die Suche nach Sponsoren kümmert sich ihr Vater. Die Familie ist es auch, die ihr die Konzentration auf die Kunst finanziert. Bis heute, Gliga ist 38 Jahre alt. Ihre Mimik ist unruhig, bei Fragen legt sie die Stirn in Falten, als fürchte sie, was kommt. Manchmal lächelt sie plötzlich, es ist ihr wichtig, eine positive Verbindung zu ihrem Gegenüber aufzubauen. Warum haben es Künstler so schwer, selbst in Bukarest? „Das Hauptproblem sind die Massenmedien. Und die Politiker. Niemand redet über Kunst oder Kultur, als wären sie kein Teil der Gesellschaft.“ Diese Schattenexistenz von Kunst und Künstlern zwingt auch Gliga zu Kompromissen. Momentan sucht sie in Bukarest einen Brotberuf.

Cosmin Frunteş ist ein ruhigerer Mensch als Gliga. Aber auch ihm sind die Folgen von wenig Schlaf und viel Stress anzusehen. Unter seinen olivgrünen Augen liegen Schatten. Sein Bart ist stopplig. Er spricht leise, gestikuliert nur aus den Handgelenken. Ein Foto von sich will er nicht machen lassen. Er schicke eines per Mail. Seine Worte klingen manchmal, als wolle er sich Mut zusprechen. „Bald lade ich ein paar Bilder ins Auto und fahre nach Berlin zu Galeristen. Vielleicht habe ich Glück.“ Wohnen bleiben will er in Kronstadt; hier hat er seine Familie, hier seine Arbeit. „Ich kriege Aufträge von einem Architekten. Manchmal braucht er Stimmungsbilder für neue Häuser und Wohnungen. Die male ich dann. Ohne sie zu signieren, natürlich.“ Für Frunteş hat diese Arbeit nichts mit Kunst zu tun. „Ein Kunstwerk ist das Produkt langen Nachdenkens. Bei diesen Auftragsarbeiten geht es nur um Handwerk.“ Der Künstler ist für Frunteş ein Philosoph, der sich einer universellen Sprache bedient. Er brauche viel Zeit zum Denken. Momentan aber investiert Frunteş mehr als die Hälfte seiner Arbeitszeit ins Marketing; ähnlich viel wie Magda Vacariu. Auch er ist im Internet aktiv; auf seiner Homepage, seinem Blog, Facebook, Kunstwebsites. „Ich bin nicht der Typ, der sich selbst gerne in den Mittelpunkt stellt. Aber mir bleibt nichts anderes übrig.“ Vielleicht hat dieser Zwang ihn ein wenig eitel gemacht. Auf dem Foto, das er schickt, posiert er im Profil, in blütenweißem Hemd, mit nachdenklich-träumerischem Blick.

Ihre Bilder

Doch die wichtigsten Themen für Künstler sind nicht ihre Alltagssorgen, ihre Überarbeitung, ihr Frust, ihr Schlafmangel – es sind ihre Bilder. Ein Blick darauf offenbart viel von ihrer Weltsicht, ihrer Persönlichkeit, ihrem Umgang mit Problemen. Luminiţa Gliga malt abstrakt, Gesichter, Tiere, Natur. Sie mag unnatürlich grelle Farben, die an japanische Zeichentrickfilme erinnern. Ihr Ziel ist, sagt sie, den Betrachter aus der Alltagswelt zu entführen, ihn von seinen Sorgen abzulenken, ihm die schönen Seiten des Lebens zeigen. Cosmin Frunteş malt konkret. Seine Werke demonstrieren die schädlichen Einflüsse der Menschen auf die Natur. „Ich möchte ein Medium sein zwischen Natur und Kunst. Meine Bilder sollen Menschen in die Natur senden.“ Marina Vacariu malt realistisch, am liebsten Porträts, am liebsten von ihrer Tochter. Sie malt sie mal als Kind, mal als junge Frau.

Marina Bîra malt sich selbst. Wenn sie die Aufnahmeprüfung schafft, beginnt im Herbst ihr Kunststudium. „Ich habe keinen Zweifel, dass sie aufgenommen wird“, sagt Vacariu. „Schau dir ihre Bilder an!“ Bîra lächelt. Sie steht mittlerweile, wie die anderen, hinter einer Staffelei und fährt mit dem Pinsel über das Papier. Vielleicht ist sie eine der Glücklichen, die das große Los ziehen. Und irgendwann einmal wird jemand schwarze T-Shirts mit ihrer Kunst bemalen. Das ist das Gruselige, das Großartige am Künstlerdasein: Es ist alles möglich. Es ist alles offen.