Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse wurde der neue Gedichtband von Alexandru Bulucz vorgestellt. Mit „Stundenholz“ (rum.: toaca) stellt er Bezüge zweier Kulturräume her und beginnt bei sich selbst.
Steht man vor der „Unendlichen Säule“ von Constantin Brâncu{i als einem irdenen Fingerzeig zum divinen Himmel, so erfasst den hochblickenden Betrachter ein eternes Gefühl in Raum und Zeit, ist die Säule doch eine quasi endlose Aneinan-derreihung von deutungsweise kantigen Sanduhren. Doch diese sind nicht etwa hohl. Sie sind sicherlich sinngemäß erfüllt vom ebenso zeitlos wirkenden Klang des orthodoxen Klopfbrettes, mit dem in der Jugend des Bildhauers Mönche des Klosters Tismana in den Vorkarpaten zur Andacht gerufen haben, rufen und rufen werden. Doch der Unendlichkeit in der Seele stand die rurale Enge entgegen und Brâncu{i verließ – oder floh? – mit 12 bis 13 Jahren jene Gegend zum regionalen urbanen Zentrum hin, wo er dann die Kunstgewerbeschule als ersten Schritt in die weite Welt besucht hat.
In der Tradition jener Moderne läßt sich die Lyrik von Alexandru Bulucz verorten, der mit 13 Jahren vom Vater in Karlsburg/Alba Iulia in den Bus gen Westen zur geschiedenen Mutter gesetzt worden ist, um dort Deutsch zu lernen und um die Weite der Welt zu erfahren. Jahre später, nach einem Germanistikstudium mit Schwerpunkten in Komparatistik und Philosophie, gedachte Alexandru Bulucz seiner alten Heimat, „einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“ und erhielt dafür den DLF-Preis beim renommierten Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2022. Ob als Prosa oder Lyrik: seine Texte fordern, regen an, bewirken ein besonderes Leseerlebnis. Arm an Handlung umfassen sie mitunter das Geschehen von Jahrzehnten im wechselnden Rhythmus der beiden Schlägel auf einem horizontal hängenden Holz, dessen Schall Nonnen und Mönche seit Jahrhunderten über bewaldete Hügel zu einer festen Stunde erklingen lassen.
„Stundenholz“ ist ein Buchtitel, der eben so gut auch zu dem vorangegangenen Lyrikband „Was Petersilie über die Seele weiß“ passen würde. So ist es nun mal bei Gedichten, die thematisch nicht dem Trend der Zeit folgen, sondern eher Sinnbild für die Vergänglichkeit der Zeit selbst sind. Der polyglotte Wortarchäologe Bulucz spürt dabei häufig semantischen Ursprüngen und Varianten von profan anmutenden Begriffen nach, die er, mit Metaphern und Ereignissen assoziert, in Versen substanzialisiert, zumeist mit einer Pointe abschließend. Dabei spielt der Autor ganz nebenbei und wie selbstverständlich auch rumänische Worte ein. Er weiß signifikante kulturelle Höhen und Empfindungen aus dem vorkarpatinen Raum Rumäniens mit jenen westlicher Philosophie zu verknüpfen, als würden sich jene Amplituden aufaddiert gegenseitig verstärken: kulturelle Interferenzen.
Auf einen solchen Höhepunkt trifft man bereits auf S. 23 beim todesfugenartigen „Gegengesang für eine Gegenheimat“ über folterartig vernachlässigte Waisenkleinkinder im spätkommunistischen Rumänien. Im Ductus einer schwarzen Milch der Frühe, die sie nachts trinken, schreibt Alexandru Bulucz über jene Kinder mit „Greisengesicht“: „Aurora, du verwandelst Nacht in Tag, // hast dir die Augen infrarot geweint.“
Bei diesem autofiktionalen Gedichtband verschwimmen Grenzen zwischen Erlebnissen, Ost-West-Erinnerungen, zeithistorischem Hintergrund und aktuellen Reflektionen in Versen. Kunst/Lyrik zeichnet sich als das einzige Kontinuum ab im identitären Transformationsprozess eines „Binnenvertriebenen“ aus der rumänischen Sprache ins Deutsche. In Weiterentwicklung jener seelisch schmerzhaften Veränderung, die der Autor an Rose richtend im Gedicht „Stundenholz“ des Vorgängerbandes aufzeigt, nutzt er nun wirkungsstark daraus abgeleitete Erkenntnisse. Zwar setzt er nun wiederholt die Formel „sehen Sie“ ein, ambivalent als Imperativ oder als Frage auslegbar, erweckt jedoch zugleich den Eindruck einer Selbstvergewisserung. Entstanden ist ein souveränes wie fragiles Kunstwerk eines Menschen, der in kindlichen Jahren wenig Empathie erfahren hat und genau jene nun fördert.
Die Texte zeichnen sich durch inhaltliche wie auch durch Formenvielfalt aus. Die Poesie stark verdichteter Kurzlyrik beeindruckt ebenso wie mehrseitige Erzählungen bestehend aus reimfreien Langversen mit gekonnt beibehaltener Rhythmik. Genregrenzen schwinden. Majka, die Urgroßmutter des lyrischen Ichs, wird zur Protagonistin am Rande einer mäandernden Kreisstraße, in die der sog. Heuweg mündet, der vom karpatinen Gehöft kommt. Majka, in der kindlichen Wahrnehmung aus Ferienzeiten, dient der Offenbarung der Wahrheit im naiven Sehen: der Armut, wie der Autor in einem eingeflochtenen Kurzessay sein literarisches Konzept erläutert. Doch es ist weitaus vielschichtiger, bedenkt man z.B. die Anleihen bei der Geometrie, um die „Anthropozentrik“ des Menschen inmitten des naturnahen Lebens aufzuzeigen. Von dort aus zieht das jugendliche lyrische Ich seine Kreise, zu denen Mitmenschen sich wie Passanten, Tangenten und Sekanten verhalten. Jene Textpassagen sind nicht nur preisverdächtig, sie wurden bereits beim erwähnten prestigeträchtigen Literaturwettbewerb gewürdigt.
Da zu sein, in der Heimat, war etwas Selbstverständliches. Der Lyriker erinnert: „...wussten wir im Glück noch nichts von unserem Glück.“ In einem DLF-Interview fügt er hinzu: „Aber dann verlierst Du diese Geografie und merkst: Heimat ist eigentlich immer der Verlust von Heimat.“
Jean Paul Aphorismus’ folgend ist die Erinnerung das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann. Und ist die Erinnerung kein Paradies, dann ist sie ggf. Grundlage für einen Gedichtband wie vorliegend: „was bleibt // in Erinnerung. Schuhwerk, gebrauchtes, // das knöchelhoch war u. auch falsch“. Doch auch der Kindheit in der Plattenbauwohnung entlockt Alexandru Bulucz Poesie, die er mal mit Texten von Kafka assoziert oder in der Art, wie er von zwei Teppichstangen im Hof ausgehend zu damaligen Sportlegenden aufschließt. Mit gewitzter Beobachtungsgabe wird z.B. ein Tetraeder mit Wassermelonen in Einklang gebracht. Immer wieder platzt auch die Wunde auf, wie sie nur von nächst stehenden Bezugspersonen jener frühen Kindheitsjahre verursacht werden kann. In einem späteren Zyklus arbeitet der Lyriker seine letzten Kontaktversuche aus Deutschland Richtung Rumänien zum Vater auf. Bezugnehmend auf Kafkas „Brief an den Vater“ formuliert er „rief an den Vater“: „Die Gespräche am Telefon, nie auf Augenhöhe, sind seit unserer Trennung das Einzige, was unsere Trennung bezeugt.“ Bei allem persönlichen Hintergrund wird hier kein singuläres rumänisch-deutsches Schicksal verdichtet, der Lyrik jedoch eine heilende Wirkung zugedacht.
In Deutschland u.a. Celan, Kafka, Eliade, H. Müller lesen, in Rumänien reisen, in Deutschland schreiben: Ist das die neue deutsch-rumänische Literatur, die der wohl ablebenden einheimischen rumäniendeutschen Literatur folgt? Man verfällt vorschnell der Versuchung, Alexandru Bulucz innerhalb der Folgegeneration von Ernest Wichner und Franz Hodjak sehen zu wollen, deren Lyrik stark vor Ort im Banat und im Siebenbürgen Rumäniens verwurzelt ist – aber eben nicht nur. Zudem zeugt z.B. der Literaturkreis „Stafette“ in Temeswar von fortwährender einheimischer deutscher Lyrik in Rumänien, wie sie – feinfühlig kuratiert von Enikö Dácz - zuletzt in der Halbjahresschrift „Spiegelungen“ des IKGS, München, selektiv publiziert worden ist. Das kann als Fingerzeig all jenen dienen, die aufgrund demografischer Entwicklungen im Abgesang auf rumäniendeutsche Literatur die Kreativität bei Kunst unterschätzen. Jene Schwingungen können sich zu Interferenzen überlappen und in Resonanz fortwirken – ähnlich der Lyrik von Alexandru Bulucz mit bleibendem Wert.
Alexandru Bulucz: StundenholzGedichteSchoeffling & Co., Frankfurt a.M., 2024Klappenbroschur, 144 S., 22 Euro (D)ISBN 978-3-89561-508-5
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