„Lebendige Figuration der Allgemeinbildung:  Episoden aus dem Leben des Kurt „Tommy“ Ziegler 

Eine Rezension von Ortwin-Rainer Bonfert

Kurt Thomas Ziegler, „Von den Doppelschwertern zum Doppeladler (Bd. 1), Episoden eines Bildungs- und Lebensweges“, Schiller Verlag, Bonn - Hermannstadt, 2022 broschiert, 480 S., 89,00 Lei / 19,90 Euro ISBN 978-3-949583-10-0

Wer ist Kurt Thomas Ziegler? Auf dem Rücken seines 480-seitigen Buches ist kaum ein Hinweis über den Verfasser zu finden - in einer editorialen Notiz auch nicht. Thomas Ziegler ist Chronist einer Epoche Siebenbürgens, über die bereits Sachbücher unterschiedlicher Disziplinen berichten und Romanciers diversen Couleurs erzählen. Nun liegen rückblickende Beobachtungen vor, die anhand des eigenen Lebensweges besonders authentisch Zeugnis über eine Gesellschaftgruppe ablegen, die eines ist: sie ist weg.

Doch wer ist Thomas Ziegler? „Welchen Familien wir entstammten, welcher Herkunft unsere Ahnen waren - diese Fragen waren für uns Kinder (...) völlig irrelevant, da ja auch (noch) keine neugierige Elsa von Brabant vorbeikam und mich wissbegierig fragte, welcher Art ich sei.“

Ähnlich diesem Bezug zu „Parzival“ verwebt der Autor eigene Erinnerungen und aktuelle Reflexionen mit Literatur, auf die er in „Leseexkursen“ häufig in essayistischem Stil eingeht. So kann es passieren, dass man dieses eine Buch liest und Anregungen für zig weitere erhält. Die jeweiligen Autoren werden im Text fett gedruckt hervorgehoben und bieten der Leserschaft auch die Möglichkeit - je nach Gusto - den jeweiligen Abschnitt „elegant zu überspringen“. Aber was wäre ein Buch mit Episoden über einen Bildungsweg ohne literarischen Diskurs, zumal jene „mitschwemmenden Skripte“ durchaus auch ein Abbild damaliger Leseinteressen darstellen. Sie werden unaufdringlich und passend in den linearen Erzählstrang im Parlando-Ton des Ich-Erzählers eingeflochten.

Doch wer ist Thomas Ziegler? Natürlich wird anfangs nach den Familienwurzeln gegraben. Unversehens findet man sich nach einem Exkurs über armenische Kaufleute in einem dörflichen Marktflecken Südsiebenbürgens zum fin-de-sičcle wieder, inmitten einer wachsenden Familie, wirtschaftlichen Erfolgen und dem für jene Zeiten typischen schulischen Werdegang der Kinder, wobei Geige- oder Klavierunterricht zum guten Ton gehört haben. Ausgerechnet mit jener Kunst erwarben sich die späteren Großeltern nach den kommunistischen Enteignungen im hohen Alter ein karges Zubrot und gaben Musikunterricht. Sie kamen, aus ihrem stattlichen Landhaus verjagt, in einem zur Wohnung umgestalteten, ehemaligen Krämerladen in der Hermannstädter Schewisgasse unter, der widerum den Großeltern des Rezensenten enteignet worden war. Solche Zufälle sind irgendwie auch typisch für jene Zeiten und Gesellschaftskreise, da damals alle in irgendeiner Weise von Repressalien betroffen waren. Die authentischen Schilderungen sind individuell und dennoch exemplarisch für das sogenannte Bildungsbürgertum jener Zeiten.

Doch wer ist Thomas Ziegler? Er war das Kind einer gutbürgerlichen sächsischen Familie jener Nachkriegsjahre in Hermannstadt/Sibiu und in diesem ersten von drei Bänden läßt er jene Zeiten aufleben. Gespickt mit verschmitzten Bemerkungen - sich selbst dabei nicht verschonend - erzählt er, weil er etwas zu erzählen hat und weil er erzählen kann: verblüffend offenherzig, selbstkritisch und zuweilen heute noch, über 70 Jahre alt, in zweifelnder Ambivalenz.

Der Autor kündigt die Beschreibung seines transsilvanisch-austriakischen Lebensweges an, der ihn aus Hermannstadt, mit den Doppelschwertern im Stadtwappen, in die ehemals habsburgische Metropole Wien, mit dem Doppeladler im damaligen Staatswappen, geführt hat. Der vorliegende erste Band titelt mit Meschendörfers Zitat „Anders rinnt hier die Zeit...“ und beginnt mit den familiären Ursprüngen. Eingebettet ins Zeitgeschehen skizziert er das Großfamilienleben, in deren Obhut er in der Kindheit Zugang zur Welt der Bücher fand, um fortan seinen „Bildungs- und Lebensweg“ zu beschreiten. Allgemeinbildung und Kunst halfen, Kriegswirren, Deportation, Repressionen sowie allzumenschliche Schicksalsschläge zu überwinden und eröffneten neue Perspektiven.

Der Werdegang der weit verzweigten Familie(n) dokumentiert den Wandel jener Kreise, beginnend in der Zwischenkriegszeit im Königreich Rumänien, dem Versuch, sich mit der Situation im Kommunismus zu arrangieren, und schließlich den erfolgreichen Neuanfängen in Österreich und Deutschland mit Engagement für das Siebenbürgische Kulturerbe, von dem jenes des Habermann-Zweiges am bekanntesten sein dürfte. Dieser erste Band endet abrupt mit dem Medizinstudium des Verfassers in Klausenburg und der dortigen Mitwirkung in der dreisprachigen Studentenzeitschrift „Echinox“. Heute fast schon legendär, zählt sie zu den Ursprüngen literarischer Tätigkeit gemeinsam mit Studienfreunden, wie Stefan Sienerth und Peter Mot-zan, flankiert daheim in Hermannstadt von Gesprächen mit Wolf von Aichelburg. Mit viel Charme wird hier über Zeiten erzählt, die anderweitig nur aus Fachaufsätzen bekannt sind.

Diese Episoden der Erinnerung sind weder intime Offenbarungen eines britischen Prinzen, noch werden diplomatische Geheimnisse eines Weltpolitikers gelüftet. Immer wieder schließt sich hier aber ein imaginärer Kreis, wonach musikalische und literarische Bildung mit Esprit zu Geselligkeit in Salonmanier und Freundschaften führen kann, sowie zur Selbstverortung im Leben verhilft. 

Von Vorteil ist die Gestaltung der Memoiren in Episoden, die durchaus auch einzeln, losgelöst voneinander, gelesen werden können. Thomas Ziegler schreibt, wie es war. Anders als bei autofiktionalen Erzählungen liegt es in der Natur der Sache und dem Lebensverlauf, dass nicht alle Episoden für jeden gleichermaßen inte-ressant sind - ggf. kann im Folgekapitel weiter gelesen werden. Doch dann könnten einem Anekdoten und beobachtungsstarke Kommentare zum Familien- und Zeitgeschehen entgehen. Zum Beobachter wird der Leser selber, wenn man von genau definiertem Umfang neuer Vokabeln erfährt, die der noch jugendliche Autor seinem fürsorglichen Vater aufzusagen hatte, bevor der geschätzte Sonntagsausflug angetreten werden konnte. Bekanntlich  ist doch Zuneigung, bzw. Liebe bedingungslos, unkonditioniert. Jene (früh)kindliche Prägung durch den Vater sollte den Autor sein Leben lang begleiten. Im fortgeschrittenen Alter motivierte sie wohl zu einem Kapitel mit dem Titel „Ein nicht erreichbares Vorbild, dem ich stets nacheiferte - mein Vater Dr. Kurt Ziegler” und bedingte wohl den Drang, sein dennoch angehäuftes Allgemeinwissen deutlich über Prägendes oder einzelne Vorlieben hinaus stolz darzustellen; eher als Syndrom, denn als Synthese. Dabei kommen  regelmäßig absatzlange Schachtelsätze mit zweifelsfrei korrekter Syntax zustande - sogar auf dem Buchrücken. Thomas Ziegler ist wer.

Mit der Lektüre dieses Buches taucht man auf sehr persönlicher Ebene mitten in längst vergangene Zeiten ein. Manche werden sich darin wiederfinden, andere werden erfahren, wie es sich angefühlt hat, damals zu leben. Es ist eine Lebensart, die Thomas Ziegler an die Leserschaft weiter gibt.