Als auf der letztjährigen Leipziger Buchmesse Rumänien die Gelegenheit hatte, sich als Schwerpunktland zu präsentieren, fand dort auch eine vom Stadtgeschichtlichen Museum Bukarest kuratierte Ausstellung statt, die den Titel trug: „Leipzig – Bukarest – Leipziger Straße: eine europäische Geschichte“. Exakt derselbe Titel schmückt einen umfangreichen Text- und Bildband, der vom Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Bukarest, Adrian Majuru, im Verlag des Museums des Munizipiums Bukarest im vergangenen Jahr herausgegeben wurde.
Das über 350 Seiten umfassende Opus wird ausschließlich in deutscher Sprache vertrieben und ist weit mehr als bloß ein Ausstellungskatalog. Es ist ein reich bebilderter wissenschaftlicher Textband, der Stadt- und Landesgeschichte mit europäischer Geschichte zu verbinden weiß und den Fokus dabei insbesondere auf die Bukarester Strada Lipscani, die Leipziger Straße, richtet, in der Handel, Gewerbe, Mode und Bankwesen florierten, in der Orient und Okzident im Rahmen einer über vierhundertjährigen Geschichte einander begegneten und in der Multikulturalität kein Fremdwort war.
Bereits die zwei Abbildungen auf dem Schutzumschlag des lesens- und sehenswerten Bandes machen die Begegnung der beiden Städte Leipzig und Bukarest sinnfällig. Man sieht auf den beiden übereinander angeordneten Bildern jeweils den „Leipziger Markt“. In der oberen Hälfte des Schutzumschlags ist ein Aquarell aus dem Jahre 1790 wiedergegeben mit dem Motiv jenes monumentalen Marktplatzes in Leipzig, auf dem Jahrhunderte lang Hinrichtungen vollzogen wurden (letztmalig wurde dort 1824 der Soldat Woyzeck geköpft, dem Georg Büchner sein gleichnamiges Drama widmete) und auf dem heutzutage alljährlich der schöne und traditionsreiche Weihnachtsmarkt abgehalten wird; und in der unteren Hälfte des Schutzumschlags erblickt man die Reproduktion eines Fotos aus dem Jahre 1920, das den Eingang zur Bukarester Lipscani-Straße, die heutige Piața Roma mit der Statue der römischen Wölfin, voll quirliger Geschäftigkeit zeigt.
Im einleitenden Essay zu dem Text- und Bildband hebt der Herausgeber Adrian Majuru nicht nur die parallele Entwicklung der beiden Handelsstädte Leipzig und Bukarest hervor, sondern betont auch ihre im Laufe der Geschichte stets wachsenden Handelsbeziehungen, die z. B. im gesamten 19. Jahrhundert die Auswanderung aus deutschen städtischen Räumen in die rumänischen Fürstentümer ermöglichten und beförderten. Im Jahr 1900 war die deutsche Gemeinschaft in Bukarest mit rund 3000 Mitgliedern sehr zahlreich geworden, und das im frankophonen Raum kulturell verankerte „Klein-Paris“ war im Hinblick auf die Berufs- und Gewerbekultur vornehmlich deutsch geprägt, was noch im geflügelten Wort Tudor Arghezis nachhallt, der Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Landsleuten die Frage vorlegte: „Aveți ceva scule, dar nemți aveți?“ (Ihr habt ein paar Werkzeuge, aber habt ihr auch Deutsche?).
Das erste „Ante Leipzig“ überschriebene Kapitel des Bandes ist in seiner Gänze Bukarest gewidmet, jener Stadt „am Rande des Orients“, in der „Kaufleute das Sagen hatten“ und deren malerische Märkte wie deren einzigartiger Reichtum auf dem Balkan zusehends legendären Status erlangten.
Das zweite Kapitel des Bandes zeichnet dann den Weg Bukarests in die europäische Geschichte nach, beginnend mit den mittelalterlichen Wurzeln der Stadt an der Dâmbovi]a, über das „finanzielle Jahrhundert“ (1850-1950), in dem die Lipscani-Straße zur mondänen Flaniermeile avancierte, bis zur zeitgenössischen Gegenwart. Schon 1855 konnte der österreichische Heereshauptmann Stefan Dietrich begeistert berichten: „Die schönste und heiterste Straße in Bukarest ist die Leipziger Straße, wo man die reichhaltigsten und luxuriösesten Läden findet, die es in Größe und Glanz mit den Wiener Geschäften durchaus aufnehmen können“. Archäologische und numismatische Forschungen ergänzen schließlich dieses stadtgeschichtliche Kapitel über die Lipscani-Straße und ihre Umgebung.
Das dritte „Post Leipzig“ betitelte Kapitel des Bandes beginnt mit einem aufschlussreichen Auszug aus dem Statistischen Jahrbuch der rumänischen Kapitale für die Jahre 1898/1899, der sich mit der Bu-karester deutschen Gemeinde befasst und demografisch höchst zuverlässige Daten liefert. Nach Stadtbezirken aufgegliedert sind hier sämtliche 2972 angemeldeten Deutschen nach Berufen erfasst, vom Bauunternehmer bis zum Rechtsanwalt, vom Lehrer bis zum Privatbeamten, vom Koch bis zum Schneider. Ein weiterer Essay dieses Kapitels befasst sich mit rumänisch-deutschen kulturellen Interferenzen im Kontext der Herrschaft der Fanarioten-Fürsten und im Hinblick auf die „Wahrnehmung des Okzidents an den Toren des Orients“. Ein Aufsatz über Bukarest als Modestadt gibt faszinierende Einblicke in die Geschichte der Kleidermode „an der Nahtstelle zwischen Orient und Okzident“, mit zahlreichen bunten Abbildungen zur Volkstracht, zur Tracht der Vorstädter, zur Bukarester Mode im eigentlichen Sinn bis hin zur modernen Mode europäischer Art.
Ebenfalls noch im dritten Kapitel des Bandes finden sich vier Essays, die unter der Überschrift „Deutsche Erfolgsgeschichten im Bukarest von anno dazumal“ versammelt sind. Dazu zählt die Geschichte der ersten Bildhauerdynastie aus Rumänien, der Familie Storck, mit Karl, Carol und Friedrich Storck als ihren wichtigsten männlichen und mit Cecilia Cuțescu Storck als ihrem wichtigsten weiblichen Mitglied; ferner die Geschichte der Familie von Becker, zu der auch der Bildhauer Emil Wilhelm August von Becker zählte, der u. a. die wunderschönen Dekorationen am Museum Dr. Nicolae Minovici schuf. „Die faszinierende Welt des Industriellen Rudolf Gaiser“ beschreibt dann ein Essay über den Sohn von Baptiste Gaiser, welcher 1895 zusammen mit fünf aus Preußen gerufenen Facharbeitern den Grundstein für die erste Metallfabrik in der Walachei legte. Ein Aufsatz zum Thema „Erfolgreiche deutsche Unternehmer in Bukarest“ sowie eine Sammlerbiografie zur historischen Persönlichkeit des 1897 in Bukarest geborenen und 1982 gestorbenen Ingenieurs Dumitru-Furnică Minovici runden das umfängliche Hauptkapitel dieses Bandes ab.
Das vierte Kapitel mit dem Titel „Leipzig multiplied“ macht deutlich, dass es nicht nur in der rumänischen Hauptstadt eine Lipscani-Straße gab, die das Zentrum des Warenhandels bildete, sondern auch in zahlreichen anderen Städten Rumäniens, mit genau derselben Betonung von Handwerk und Handel. Leipziger Straßen finden sich neben Bukarest auch in Craiova, in Slatina, in Râmnicu Vâlcea, in Ploiești, in Caracal, in Horezu, Videle und in Strejnicu, wo die Leipziger Handelsaktivitäten landesweit vervielfacht Raum gewannen, in diesem Prachtband illustriert durch zahlreiche Fotos, Lagepläne und alte Postkarten.
Das fünfte und letzte Kapitel des Bandes besteht ausschließlich aus aktuellen Fotografien, die Bukarest als „eine Stadt für die Zukunft“ empfehlen. Am Ende dieses anspruchsvollen Bandes, der zudem mit zahlreichen Literaturhinweisen aufwartet, schließt sich dann auch der Kreis wieder zur Stadt Leipzig: „Die Bukarester Lipscani sieht heute immer mehr aus wie die Straßen im alten Leipzig. Neben mehreren Bankinstituten entwickelte sich in den letzten 10 Jahren auch ein Kultur- und Freizeitraum, den es in Bukarest zuletzt in den 1930er Jahren gegeben hat.“ Und wenn man die schön gepflasterte Ladenstraße des im 18. Jahrhundert erbauten Lindengasthofs (Hanul cu Tei) betrachtet oder den wunderbaren Innenraum der Buchhandlung Cărturești Carusel, die im alten Sitz der Chrissoveloni-Bank eingerichtet wurde, dann mag man den Autorinnen und Autoren dieses zum Blättern und Schmökern einladenden Prachtbandes durchaus Recht geben.