Am 26. August 2018 ist der bekannte Pfarrer und Schriftsteller Walther Gottfried Seidner friedlich verschieden. Um ihn trauern mit der Familie die Evangelische Kirche in Rumänien und die Freunde, Weggefährten und Landsleute hier und im Ausland. Im folgenden Nachruf versuchen wir, im Rückblick auf sein Leben, ein Wort der Würdigung und Deutung dieses treuen Dieners seiner Kirche und beliebten Dichters der Siebenbürgisch-Sächsischen Welt.
Als Christen glauben wir, dass sich im Leben jedes Menschen ein besonderer Gedanke Gottes verbirgt, der das letzte Geheimnis unseres Daseins in dieser Welt ausmacht und sich am Ende, selbst als Stückwerk, in seiner verborgenen Vollendung, offenbaren will.
Das Geheimnis seines eigenen Lebens zu ergründen hat der vielseitige Pfarrer Walther Gottfried Seidner immer wieder versucht. Das hat er einmal mit einer besonderen Interpretation des biblischen Spruches aus dem 1. Buch Samuel 16, 7 gewagt: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an.“ Denn in einer seiner vielen Erzählungen („Der Lachmeister“) hat er das, was sein Leben und sein Wirken prägte, mit der alten philosophischen Unterscheidung umschrieben von AUGE als Sinneswerkzeug des Zeichens, also der „Oberfläche“ (von dort kommt unser Ausdruck „oberflächlich“) und als HERZ, der gleichnishafte Inbegriff von der geheimnisvollen menschlichen Tiefe (von dort kommt die Rede von der „Dimension der Tiefe“). Auf diese Weise deutete er seinen eigenen Umgang mit Gleichnissen, Geschichten und Bildern als Schriftsteller, aber auch als Prediger. Geschichten hat er von früh auf gemocht und sie gerne weitererzählt und so war er von dieser Art bestimmt, die Welt zu erleben.
Es geht also dabei um das, was über das Sichtbare, das das Auge erfasst, hinaus für das Leben unentbehrlich ist: das Herz als Symbol. Mit dem Herz wird die Welt anders gesehen als mit dem bloßen Auge. Denn: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, so hat der „kleine Prinz“ es ausgedrückt. Und das heißt: hintergründig, sinnbildlich, in der Weise des Gleichnishaften, dessen sich Dichtung und Kunst bedienen, und ebenso die Evangelien, weil diese Daseinsweisen „aus dem Herzen“ kommen und die „größere Wirklichkeit“ offenbaren als nur die mit dem Auge wahrnehmbare. So mag auch Walther Gottfried Seidner sein Leben als Pfarrer und gleichzeitig als Dichter zu verstehen gesucht haben.
Der am 15. März 1938 in Hermannstadt geborene älteste Sohn des Tischlermeisters Gottfried Seidner und der Susanna, geb. Gottschling, gab sehr früh – das wissen wir aus seinen Erinnerungen, die er in einer Reihe von Publikationen festgehalten hat – eine Vielfalt von Begabungen zu erkennen. Es war vor allem die Freude an Geschichten und ihrer lebendigen Sprache, die ihm der Vater nahe gebracht hat, verbunden mit musischen Interessen, wie für das Klavierspiel und später das Singen im Bachchor in den Gottesdiensten der Stadtpfarrkirche. In den frühen Jahren seines Lebens, in den Kriegszeiten damals, wurde er von Erlebnissen bedrängt, die für ein Kind nicht leicht zu verkraften und noch schwerer zu begreifen waren. Diese suchte er später in seinem schriftstellerischen Werk zu verarbeiten. Dabei erkannte er wohl, dass dies mit dem „bloßen Auge“, also in der üblichen Sicht der „Oberfläche“, nicht möglich ist, und fand so Zuflucht in dem für ihn typischen, besonderen, ja einmaligen, meistens gereimten Schildern, Deuten, Klären seiner frühen Eindrücke. Das geschah mit seiner eigenartigen, besonderen, sogar für einen wortkundigen Pfarrer ungewöhnlichen Sprache. Es ist eine Sprache mit Wortspielen, selbst mit Wortverdrehungen und „Verknotungen“ – wie er das nennt. Sie beruht auf scharfer Beobachtung und einfühlsamer Menschenkenntnis. Es ist eine Sprache, deren Motive einen philosophischen Hintergrund haben, ernste Gedanken ebenso wie launige Weisheiten vermitteln, häufig mit einem herzerquickenden Humor gewürzt. Dies hat ihm den Namen „Voltaire“ auf der einen Seite und die Bezeichnung als „Wilhelm Busch von Siebenbürgen“ andererseits eingebracht.
Auch sein Weg zur Theologie wird von hier aus verständlich. Walther Gottfried Seidner hat in der Theologie diejenige Geisteswissenschaft entdeckt, in der das Wort im Mittelpunkt steht und wo man als Pfarrer durch die Predigt die Möglichkeit hat, die christliche Botschaft in eigener, geheimnisvoller, tiefgründiger Weise zu vermitteln und in die Herzen der Menschen zu pflanzen. Wesentlich mag dazu beigetragen haben, dass er seine ersten Volksschuljahre 1945-1952 in der römisch-katholischen Grundschule auf der Kleinen Erde, die damals als die beste in Hermannstadt galt, zubrachte. Hier hat ihn ein junger Kaplan, der unausgesetzt Geschichten erzählte, nachhaltig beeindruckt, sodass er – wie er schreibt – sogar den Wunsch verspürte, als Ministrant mitzuwirken. Es folgte nach dem Besuch einer technischen Mittelschule 1952-1956 die Aufnahme des Theologiestudiums in Hermannstadt im Jahre 1957, das er mit einem Vikariat in Klausenburg abschloss, sodass er 1962 für die Gemeinde St. Georgen in Nordsiebenbürgen ordiniert werden konnte. 1967 übersiedelte er in die Gemeinde Reußdörfchen in der Nähe von Hermannstadt. Hier blieb er bis zu seiner Wahl als Pfarrer von Stolzenburg im Jahr 1982, wo er – und später auch in Diaspora-Gemeinden – einen gesegneten, hingebungsvollen geistlichen Dienst ausübte.
Inzwischen hatte er 1973 Margot-Inge, geb. Ziegler aus Hermannstadt geheiratet. Der Ehe entsprangen die vier Kinder Melitta, Senta, Uwe und Britta, die, mit dem Enkelkind Irene, in einer Großfamilie aufwuchsen, die nach der Auswanderung der Familie des Bruders Ernst Gerhard und der beiden Schwestern Ilse Tomandel und Erna Büchen, getrennt voneinander leben mussten. Sie alle erinnern sich, gemeinsam mit der erweiterten Großfamilie, dankbar an das engagierte und erfüllte Leben ihres „Voltaire“.
Wie kann man dies in der gebotenen Kürze beschreiben?
Es war bestimmt von seiner Berufung zu dem ihm übertragenen geistlichen Auftrag und den ihm gegebenen Gaben. In erster Linie für seine Gemeinden und dann – durch das Schreiben von Geschichten, Gedichten und geistreichen Humoresken – für unsere siebenbürgische Gemeinschaft überhaupt. Und das gilt für die hier Verbliebenen und ebenso für die Fortgegangenen: kritisch, mit deutlichen Worten, mutig und entschieden, aber nie beleidigend oder verletzend. Er tat es aus der Verbundenheit mit der Heimat heraus, der er sich verpflichtet wusste. Dafür hat sein Herz geschlagen, das Herz, das Gott bei ihm ansieht, weil es in allen, auch kontroversen Situationen, nie die Liebe und das Verständnis missen lässt.
Walther Seidner war immer ein „herzlicher“ Mensch, dem niemand wirklich böse sein konnte, selbst wenn er sich deutlich gegen die Auswanderung oder gegen bestimmte Missstände ausgesprochen hat. Ihm lag am Herzen sein Heimatland Siebenbürgen, das er als „Land des Segens“ verstand und dem er als Land der Duldung aller ihrer Völkerschaften, immer wieder eine neue Zukunft eingeräumt hat. So konnte er gewiss andern, auch Amtsbrüdern und Pfarrschwestern, ein Vorbild sein, wofür wir ihm an dieser Stelle danken.
Sein rhetorisches Talent, seine Sprachbegabung konnte ich bei meinen Visitationen in den von ihm betreuten Gemeinden immer wieder erleben. Er hat diese liebevoll in den drei Landessprachen, zu dem sogar das Landlerische hinzukommt, vorgestellt und mit seinen Predigten, Reden und Grußworten erkennen lassen, dass er mit ihnen verbunden ist in der Sprache ihres Herzens, um ihre Probleme und Sorgen weiß und ihnen als Seelsorger, Gesprächspartner und Lehrer gerne zur Verfügung steht.
Seine ökumenische Aufgeschlossenheit und die Öffnung für das Neue hat ihn nicht davon abgehalten, sich mit der Vergangenheit der Siebenbürger Sachsen und ihrer wechselvollen und bewegenden Geschichte zu beschäftigen. Und das auch in wissenschaftlichen Arbeiten, besonders wenn wir an seine Forschung über Damasus Dürr denken. Damit war bei ihm die Pflege der sächsischen Mundart verbunden, der er sich selbst im persönlichen Gebet bediente, aber auch zu den verdienstvollen Übersetzungen von Teilen der Heiligen Schrift (vor allem von Psalmen) und anderer Texte geführt hat.
Blicken wir zurück, so sehen wir auf ein erfülltes Leben, das nun zu seinem Abschluss gekommen ist. Und das nicht nur im Sinne der bleibenden Leistungen und sichtbaren Früchte, sondern auch im geistlichen Horizont.
Diesen können wir in seinen Beschreibungen über seine Reise in das Heilige Land entdecken, die er uns schriftlich hinterlassen hat. Die Begegnungen mit den vielen Erinnerungsorten von Geburt, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi, haben ihm gewiss immer auch den Blick hinauf in die ewige Welt Gottes geschärft, in die er nun eingegangen ist und die ihn dort schauen lässt, was er hier geglaubt hat. Sein würdiges Sterben und eine letzte Abendmahlsfeier im Carl-Wolff-Hospiz, die treue Begleitung seiner Gattin, der Familie und anderer Freunde und Weggefährten, haben ihm diesen letzten Frieden geschenkt, der das Angeld des ewigen Frieden Gottes ist.