Zum Auftakt des österreichisch-rumänischen und internationalen Theater- und Forschungsprojekts „Sea Change: Re-telling Europe“, organisierte das österreichische Kulturforum Bukarest und das Nationaltheater Bukarest am 6. Juli das exklusive Performance-Treffen für Theater- und Wissenschaftsexperten zum Thema des mythischen Charakters „Orlando“ von Virginia Woolf. Die Performance, die aus einem Poetry-Song-Projekt besteht, wird vom österreichischen Theater- und Filmverein „Wortwiege“ produziert. Leiter des Projekts „Sea Change“ sind die bekannte Theaterregisseurin, Performerin und Professorin am Max Reinhardt Seminar in Wien, Anna Maria Krassnigg, der Kulturwissenschaftler, Autor und Kurator Wolfgang Müller-Funk und der Musiker, Filmemacher und Produzent Christian Mair.
„Sea Change“ entwickelt transdisziplinäre, zeitgenössische, künstlerische Darstellungen und wissenschaftlich fundierte Diskussionen, in denen zentrale und verbindende europäische Narrative inszeniert werden, insbesondere mit dem Fokus auf dem Phänomen der Fluidität und des Wandels. Das Team von „Wortwiege“ zielt darauf ab, multikulturelle künstlerische und wissenschaftliche Gemeinschaften zu bilden, die Projekte rund um das Thema Wandel erarbeiten.
„Sea Change“ spielt sich entlang dreier Phasen im Zeitfenster 2021 bis 2023 ab. Das Projekt befindet sich gerade in der ersten Phase, „Spotting Orlando“, in der die Basis für lokale Netzwerke zur Weiterentwicklung der zweiten Phase, „Orlando Trip“ gelegt und Vorschau-Aufführungen organisiert werden.
Am Ende der Poetry-Song-Aufführung fand in Bukarest ein offener Dialog zwischen dem Publikum und Krassnigg, Mair und dem Leiter des österreichischen Kulturforums Bukarest, Thomas Kloiber, statt, bei dem Eindrücke über das Projekt geäußert wurden. Anschließend gab es einen Empfang im Foyer des Nationaltheaters, wo weitere Gespräche zwischen den Darstellern und dem Publikum möglich waren.
Das Team von „Wortwiege“ besucht im Rahmen von „Sea Change“ insgesamt 17 Orte in 11 Ländern, nämlich Athen, Bukarest, Dubrovnik, Genua, Istanbul, London, Madrid, Mailand, Paris, Rom, Sarajevo, Tel Aviv, Tunis, Thessaloniki, Triest, Zadar und Zagreb.
Litararische Einflüsse und Symbolik
Der Begriff „Sea Change“ hat mehrere Bedeutungsnuancen, deren Kern darin besteht, dass das Meer ein Medium der Veränderung und des Reisens ist. Die Menschen, die es befahren, bleiben nicht in ihrem vorherigen Zustand. In seiner poetischen Bedeutung bezieht sich „Sea Change“ auf den Vorgang der Metamorphose, auf einen Prozess der Erneuerung.
Der künstlerische Ausgangspunkt des Projekts ist daher die theatralische, visuelle und musikalische Arbeit zu Motiven aus Virginia Woolfs postmodernem Roman „Orlando“. In der Performance Krassniggs und Mairs im Nationalen Theater Bukarest wurden die Abenteuer des symbolischen Charakters Woolfs anschaulich gemacht. Orlando, der von Krassnigg gespielt wurde, durchquerte zweimal das Mittelmeer, um den orientalischen Raum zu erreichen, seine Rückkehr steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wobei Orlando immerhin als anderer, nämlich als Frau, zurückkehrt.
Der Mythos „Orlando“ zeigt, dass jede Klarheit täuscht, denn Orlando, ein androgynes, seit Jahrhunderten lebendes Wesen, transzendiert die Geschichte, bleibt jedoch von seiner vorigen körperlichen Veranlagung geprägt. Der Hauptcharakter pendelt in einem Spiel zwischen männlichen und weiblichen Handlungen. Krassnigg offenbart, dass auch ihr androgynes Aussehen, ihre tiefe Stimme und ihr Haarstil bei der Interpretation der Rolle Orlandos sehr viel helfen.
Es gibt mehrere biografische Spiegelungen im Projekt. Das eine ist, dass auch „Orlando“ von Virginia Woolf, so die Darstellerin Krassnigg, letztendlich ein verkleideter Tatsachenroman ist. Es ist ein Roman über ihre beste Freundin. Woolf hat einen dokumentarischen Stoff in eine geniale ironische Fiktion verwandelt. Es gibt ganz viele transformierte Biografien.
Diese Poetry-Song-Performance fungiert als Prototyp, der zukünftige Projektteilnehmer zu eigenen Beiträgen inspirieren kann. Der Fokus liegt auf der Implementierung von Orlandos ambivalenter Persönlichkeit und Wandelbarkeit als künstlerische Antwort auf zeitgenössische Fragen der Überwindung von Gender-, sozialen und nationalen Grenzen. Die Leiter des Projekts „Sea Change“ wollen durch einen Blumenstrauß an Themen Fluidität sichtbar machen und für die Anerkennung von Pluralität in Identitäten werben.
Im Projekt stellt das Meer einen symbolischen Ort des Wandels dar, es werden Dichotomien wie Meer und Land, Kunst und Natur, Heimat und Fremde, Mann und Frau, Leben und Sterben thematisiert. „Sea Change“ folgt außerdem einem postmodernen Ansatz, indem es mannigfaltige Verwandlungen durch eine Fülle von Diskursen und Vorgehen bewirken kann. In „Sea Change“ wird auch ein gemeinsamer und verbindender Raum des Mittelmeers, aber auch des Schwarzen Meers thematisiert, in dem jedermann Beiträge zu Verbesserungen auf verschiedensten Ebenen leisten kann.
Künftiger Verlauf des Projekts
In der zweiten Phase 2022, „Orlando Trip“, werden wissenschaftliche Symposien zu den Themen organisiert, die vom Klimaschutz bis zu philosophischen Fragen zu Identitäten reichen können. Darüber hinaus sollen – neben der Aufführung des Poetry-Song-Projekts „Orlando Trip“ – punktuell Veranstaltungen unter Beteiligung von lokalen Künstlern und Wissenschaftlern in Kulturstätten ausgewählter Partnerländer vorgestellt werden.
In der ab 2023 laufenden dritten Phase „Tell the Sea!“ werden Teams aus mindes-tens vier Partnerländern künstlerische Beiträge zum Thema „Sea Change“ schaffen. Der Schwerpunkt liegt auf interkreativen Projekten - Musik, Video, Schauspiel, Literatur - zu Themen des radikalen Wandels, wobei die Teams ihre länderspezifischen Blicke auf das Phänomen „Sea Change“ einbringen werden. Danach wird es einen multinationalen Austausch ausgewählter Beiträge geben.
Trotz der Komplexität des Kontexts und der gezielten Integration verschiedener Kunstformen ist „Sea Change“ reisefreundlich konzipiert. Diese Mobilität wird auch für die zukünftigen Beiträge gefordert, die im Rahmen dieses Projektes stattfinden werden.
„Sea Change“ wird in englischer Sprache durchgeführt, sodass das Projekt für jeden zugänglich ist. Ziel ist, einen fortwährenden europäischen Dialog zu beginnen, der ein heterogenes Publikum direkt und persönlich durch Kunst und Wissenschaft erreicht und auch Spuren im digitalen Raum hinterlässt.
Transnationale Verbindungen
Die 17 Städte, die das Team der „Wortwiege“ besucht, sind laut Krassnigg sehr unterschiedliche Orte, aber sie haben einen gemeinsamen Nenner, und zwar die Verbindung von Methamorphosen und Brüchen: man begegnet an jeder Straßenecke unterschiedlichen Kulturdimensionen und diese könnten auch die interkreativen Ansätze beeinflussen. Das Team will an allen diesen Orten Projektbeteiligungen sowohl seitens des Nachwuchses als auch der Institutionen anregen.
Anna Maria Krassnigg hält sich hier an den Satz „Keep it simple, stupid“ aus dem Buch „Three Uses of Knife“ (1998) des amerikanischen Dramatikers David Mamet. Sie will große kleine Projekte für „Sea Change“ entwickelt sehen, die für das breite Publikum verständlich sind. Ausschlaggebend ist der thematische Impakt.