„Wundervolle und zugleich grässliche Musik, herrlichste Offenbarungen“, Musik, die ihm eingegeben wurde, ihn besetzte, verwandelte, quälte und zugleich beseligte. Das alles in Es-Dur, der Liebestonart: Das letzte Stück von Robert Schumann aus dem Jahre 1854, begonnen in Düsseldorf und vollendet in Bonn-Endenich. Clara nannte sie Geistervariationen, innige Musik von großer Trauer, von Suchen und Umherschweifen. Die Musik als Sprache von Seele, vom Geist, der zum Anfang zurückwill. Brahms machte aus dem Thema eine Komposition zu vier Händen, Robert und Clara gleichermaßen nah.
Was ist die Sprache der Musik, weiß sie mehr als alle Worte, kann sie entschlüsseln, was uns bedrängt, nicht loslässt? Märchen und Geister, Dämonen verbinden sich oft in den alten Erzählungen. Schumann hat häufig Literarisches mit Musikalischem verwoben, nicht nur in den Liedern und den Quasi-Oratorien. Das Paradies und die Peri und die Szenen aus Goethes Faust, sondern besonders in der Klaviermusik, die Papillons, op. 2, die Davidsbündlertänze op. 6, der Carnaval op. 9, die Fanatasiestücke op. 12 oder besonders der Liederzyklus Dichterliebe op. 48 nach Heine-Gedichten stehen für vieles. Deshalb wird er geliebt, ist er Gefährte ins Innere, der sucht und nie zum Ende kommt.
Dagmar Dusil hat einen Musikroman geschrieben, der Phantastisches und Märchenhaftes verbindet, der mitnimmt auf der Reise nach dem Ursprung, nach der Herkunft der Protagonistin Clara und in alle Unglaublichkeiten; es ist ein Fährtenbuch in ein Rumänien, das ihr die Heimat ist und zugleich eine Metapher für alle, die wissen wollen, woher sie kommen und wo sie Bleibe finden.
Die Musik, ein Ariadnefaden, den die Autorin kunstvoll webt und doch Fragen offenlässt. Vielleicht meint sie doch eher ein großes Märchen. Der Titel „Das Geheimnis der stummen Klänge“ lädt ja schon ein, die 215 Seiten so zu lesen, eben als Geistervariationen: Eine unerhörte Geschichte, ob sie nun als Novelle oder Roman erfasst wird.
România, der Name Rumäniens in der Landessprache, liegt jenem der Roma nahe. Und in Walachei, Siebenbürgen und Banat leben viele Menschen der Roma-Volksgruppe. Ein zärtliches Volk, das nach wie vor von der mündlichen Überlieferung lebt. Alles ist aufgehoben in Geschichten. Im duftigen Roman „Lichtungen“ von Iris Wolff, die wie Dagmar Dusil aus Rumänien stammt und von diesem Land nicht loskommt, mithin Themen und Träume, Suchen und Sehnsucht in Episoden ausbreitet, zitiert eine Roma-Sequenz als Eingangszaubersatz zu Beginn eines jeden Zigeuner-Märchens. Er heißt: „Sa spe thai na spe“, übersetzt: „Es war und war nicht.“ Das könnte auch über dem stehen, was Dagmar Dusil ausbreitet.
Sie entwirft eine Sehnsuchtsmelodie, die sie anstimmt, verzweigt und zu einem überraschenden Ende führt. Vielleicht ist es jene Klangfolge, die auch ihre Kolleginnen Iris Wolff und Dana Grigorcea anstimmen; alle kommen aus Rumänien und werden den Zauber und die Brüche Românias nicht los, die Erinnerungen und die nicht vergessenen Geschichten vom Ankommen, das nicht gelingt. Diese drei Autorinnen scheinen im Zwischenland der Empfindungen, Worte, Geräusche Rumäniens zu bleiben. Während Iris Wolff einen episodischen Bogen spannt und eine Liebesgeschichte zeitlich von hinten nach vorne zum Anfang schreibt, wohl auch, um sich selbst zu finden, Dana Grigorcea einen Hummelflug aus Geschichten und Blitzlichtern um die Figur Draculas hinlegt und diese als Metapher versteht, überrascht Dagmar Dusil mit einem Mosaik aus Pianistinnen-Hoffnungen, Securiate-Repressionen und Klaviermusik, aufgespannt mit der Musik von Skrjabins Klavierkonzert, dem Chopin-Schüler Carl Flitsch, der 15-jährig verstarb und dem klopfenden Drängen von Beethovens Waldsteinsonate.
Clara, ein Wunderkind, will auf die Podien der Welt. Ein entscheidender Wettbewerb soll ihr den Herzenswunsch erfüllen. Sie gibt alles, spielt alles, ist die beste, aber wird ausjuriert, weder der erste noch der dritte Preis fällt ihr zu. Die Schergen der Securitate haben dafür gesorgt, dass sie gedemütigt wird. Zerstört. Sie gibt auf, die Träume sind versiegt. Ihr schwarzer Flügel wird zum Feind, sie rührt ihn nicht mehr an. Sie verstummt. Der Abtransport des schwarzen Geliebten, der ihre Welt war, aus dem Haus, ist ein Begräbnis. Die Welt der Musik und Podien will sie nicht. Aber wer stand an der Spitze der Jury, wer hat sich dazu hingegeben, sie zu vernichten? Clara wird nun Ärztin, erfolgreich in Deutschland. Doch die innere Musik hört nicht auf zu spielen. România ist eben eine weiche Harfe oder ein Klavier, das spielt und Klänge zaubert, auch wenn es niemand hört. Und hier baut die Autorin etwas ein, das verblüfft: Clara baut sich eine Klaviertastatur aus Papier und spielt darauf, jahrelang.
„Anfangs war es ein ungewohntes Gefühl, die Finger über den harten Untergrund gleiten zu lassen, während der Flügel verwaist im Zimmer stand… Es kam ihr wie ein Verrat vor, ein Verrat an ihr selbst, an ihren Ansprüchen, an ihren mit Füßen getretenen Leistungen. Sie quälte sich selbst und glaubte, nur so das Leben ertragen zu können. In der Stummheit des Papierklaviers spuckten die angeschlagenen Tasten Töne aus, die nur sie hörte, von denen sie wusste, und die Schwingungen erreichten den Ort in ihrem Körper, den einige Menschen Seele nennen.“ Das Leben ertragen im Nachhören der inneren Melodie, der Töne, die man selbst und nur für sich setzt: das ist das Movens der Erzählung, das den Titel des Buches beglaubigt. Weitermachen – gegen alle Vernunft. Wer täte es nicht als Künstler, Autor, Komponist? Die Beispiele sind zahlreich. Aber kann das Papierspielen so funktionieren oder ist es mehr ein metaphorischer Einfall? Ich kenne Menschen – nicht einmal Musiker -, die können Partituren lesen wie Bücher und sie „hören“ die Stimmen der Instrumente. Professionelle Instrumentalisten vermögen es erst recht, sie gehen die Noten durch wie ein Slalomfahrer die Piste und wissen dann, wo’s lang geht, wenn die Startbox verlassen wird.
Während einer Lesung auf der Leipziger Buchmesse betonte die Autorin, dieses stumme Klavierspielen sei vielen Pianisten möglich und sie habe das genau recherchiert. Von Glenn Gould weiß man, dass er auf der Fahrt mit dem Auto zu einem Konzert oft im Fonds saß und auf einer Holztastatur die Partitur durchging und sich so einspielte. Gut, Glenn Gould vor einem Konzert, das er genau kannte. Aber jahrelang als Ärztin arbeiten und nur auf dem Papierklavier spielen? Und nicht ein bekanntes Stück, sondern das anspruchsvolle Klavierkonzert fis-Moll von Alexander Skrjabin op. 20, ohne Orchesterbegleitung; sich also auch noch das Zusammenspiel von Dirigenten, symphonischem Klangkörper und Solistenpart vorstellen zu können, zu hören und zu imaginieren und dann konzertreif live aufzuführen, das klingt doch ein wenig gewagt, märchenhaft. Aber in Märchen ist alles erlaubt.
Der Wunsch nach Erlösung, wissen zu wollen, woher man kommt und so, wer man ist, lässt die verhinderte Konzertpianistin nicht los in diesem schönen Märchen. Clara war aufgewachsen bei Pflegeeltern, die das Kind gleich nach der Entbindung von der abgetauchten Mutter zu sich nahmen. Aber wer war die Mutter? Der Vater? Erst allmählich öffnet die Dagmar Dusil das Geheimnis und nimmt den Leser mit nach Katzendorf/Ca]a, einem Ort, der nicht nur als Quartier für Stipendiaten von Autorinnen und Autoren bekannt, sondern geprägt ist von Roma-Siedlungen. Und dort liegen die biographischen Wurzeln von einer anderen Figur der Erzählung, von Lavinia, auch sie Pianistin und Tochter eines siebenbürgischen Vaters, der ein Roma-Mädchen vergewaltigte. Wer ist diese international bekannte Klaviergröße? Wie entschlüsselt sich das Verhältnis der beiden Pianistinnen? Dusil treibt es auf einen erstaunlichen bis unglaublichen Höhepunkt zu, der den Charme eines Kriminalfalles hat, wo K.O.-Tropfen eine entscheidende Rolle spielen. Das liest sich spannend und zeichnet ein Bild eines Rumäniens, das unwirklich scheint und wohl eher eine Metapher ist für den Willen, sich im Kunstwerk, in der Musik eine Heimat zu schaffen, die nicht entrinnt, ein Bild, das zugleich aber auch die Absicht sichtbar macht, eine Revanche zu platzieren, um eine bittere nicht vernarbte Niederlage auszugleichen. Tja.
Dagmar Dusils Sätze sind elegant, voller Wärme und lesen sich manchmal fast wie ein Bericht. Sie weiß, wovon sie spricht und auch, dass Kunst ein unsicheres Gefilde ist. Carl Filtsch (1830-1845) aus Mühlbach/Sebe{, dessen Werk und Wirken in Siebenbürgern (Hermannstadt/Sibiu) durch einen internationalen Klavier- und Kompositionswettbewerb – 2024 zum achtundzwanzigsten Mal - gepflegt wird, beweist es und auch das russische Volkslied, das im zweiten Satz von Skrjabins Klavierkonzert zitiert wird – beides öffnet Horizonte, die nur Musik und die sie besiedelnden Dämonen zeichnen können. Geistervariationen: diese schwirren auch durch das eindrucksvolle Buch von Dagmar Dusil. Märchen haben viele Ausgänge.