Das Internationale Musikfestival „George Enescu“ setzt mit jeder neuen Folge immer wieder andere Schwerpunkte. So waren in diesem Jahr, wenn man den Blick auf die Komponisten richtet, neben der zentralen Lichtgestalt George Enescu insbesondere der russische Tondichter Dmitri Schostakowitsch, die österreichischen Sinfoniker Anton Bruckner und Gustav Mahler sowie die deutschen Komponisten Johannes Brahms und Richard Strauss mit zahlreichen Werken vertreten, neben der obligatorischen Präsenz von Kompositionen Bachs, Händels, Mozarts und Beethovens.
Wie bei den vergangenen Folgen, so galt auch in diesem Jahr ein weiterer Schwerpunkt des renommierten internationalen Festivals „George Enescu“ der musikalischen Gattung der Oper. Vom Jahr 2013 ist noch die denkwürdige konzertante Aufführung der Wagnerschen Operntetralogie „Der Ring des Nibelungen“ mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Marek Janowski im Großen Palastsaal lebhaft in Erinnerung, neben weiteren musikalischen Darbietungen von Bühnenwerken (Verdi, Wagner, Enescu) in der Bukarester Nationaloper. Deren Beteiligung war in diesem Jahr leider merklich reduziert: Nur für zwei Aufführungen von Enescus „Oedipe“ öffnete das Opernhaus der rumänischen Hauptstadt für das Publikum des Enescu-Festivals seine Pforten.
Dafür waren bei der diesjährigen Folge des Enescu-Festivals konzertante Darbietungen von Opern aus verschiedenen Epochen der Musikgeschichte besonders eindrücklich vertreten. Man konnte Richard Strauss’ „Elektra“, zu der Hugo von Hofmannsthal das Libretto verfasst hatte, mit dem Chor und dem Orchester der Bayerischen Staatsoper hören; man konnte Alban Bergs Oper „Wozzeck“ (nach Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“) mit dem Chor und dem Orchester der Philharmonie „George Enescu“ genießen; und man konnte im Ausklang des Enescu-Festivals zu mitternächtlicher Stunde zwei musikdramatische Werke Claudio Monteverdis, des historischen Begründers der Operngattung, mit der Academy of Ancient Music vernehmen: „Il ritorno d’Ulisse in patria“ (Die Heimkehr des Odysseus) sowie „L’incoronazione di Poppea“ (Die Krönung der Poppea). Außerdem waren Oratorien (Mendelssohn-Bartholdys „Paulus“ und Händels „Saul“) sowie Oden und Hymnen (Purcell, Britten, Händel) zu hören, die mit ihren szenischen Elementen gleichfalls musikdramatisches Potenzial besitzen.
Unstreitiger Höhepunkt der konzertanten Darbietungen musikalischer Bühnenwerke bei der diesjährigen Folge des Enescu-Festivals war die konzertante Aufführung der Oper eines Barockkomponisten namens Leonardo Vinci (1690-1730), nicht zu verwechseln mit dem Universalgenie gleicher Nationalität und fast gleichen Namens Leonardo da Vinci (1452-1519). Vincis 1728 in Rom aufgeführtes Werk „Catone in Utica“ handelt von den letzten Lebenstagen des römischen Staatsmannes Cato von Utica (auch bekannt unter dem Namen Cato der Jüngere), der als überzeugter Republikaner seinen Tod einem Leben unter der Diktatur Cäsars vorzog und nach dessen Sieg im römischen Bürgerkrieg 46 v. Chr. deshalb im Namen von Freiheit und Vaterland Hand an sich legte.
Der italienische Schriftsteller Pietro Metastasio griff in seinem Libretto für die Oper „Catone in Utica“ auf Werke griechischer und römischer Geschichtsschreiber zurück, nahm aber auch verschiedene Änderungen an der historischen Faktizität vor. So heißt etwa Cornelia Metella, die Witwe des Pompeius, bei ihm Emilia, und der Numiderprinz Juba trägt im Opernlibretto den Namen Arbace, ganz zu schweigen von weiteren Eingriffen Metastasios ins historische Geschehen. So ist der schmucke Königssohn Juba alias Arbace in der Vinci-Oper verliebt in Marzia, die heimliche Geliebte Cäsars, faktisch ist der Numiderprinz aber zum betreffenden historischen Zeitpunkt gerade erst einmal vier Jahre alt.
Doch in der Oper zählt nicht die geschichtliche Wahrheit, sondern die künstlerische Dramatik. Die politische Gegnerschaft von Cato und Cäsar wird in Vincis Bühnenwerk umrankt von zwei Liebeshandlungen: Catos Tochter Marzia, die eigentlich Cäsar liebt, soll nach dem Willen ihres Vaters Arbace heiraten; und Fulvio, ein Freund und Anhänger Cäsars, liebt Emilia, die ihrerseits Cäsar auf den Tod hasst, weil dieser ihren Ehemann Pompeius auf dem Gewissen hat. Die mannigfaltigen Verwicklungen der politischen und persönlichen Verhältnisse widerspiegeln sich auch in der Struktur der Oper. Neben den obligatorischen Arien gibt es eine Überfülle von Rezitativen, die alle Aspekte der Handlung sowie der Motivation ihrer Akteure vielfältig beleuchten, sodass man als des Italienischen nicht mächtiger Festivalbesucher immer wieder unschlüssig war, ob man seinen Blick auf die wunderbar singenden Interpreten oder auf die Gesangstexte richten sollte, die als Nebentitel auf zwei seitlichen Monitoren eingeblendet wurden.
Doch zumeist ließ der ätherische Klang der herrlichen Stimmen die mannigfachen Verwicklungen der Handlung vergessen, zumal „Catone in Utica“ mit einer Besonderheit aufwartete, die historisch darin begründet liegt, dass im päpstlich dominierten Rom des Jahres 1728 Frauen nicht auf der Theaterbühne erscheinen durften. So bescherte das damalige vatikanische Verdikt den Bukarester Zuhörern ein Quartett von vier herrlichen Kontratenören sowie ein Duo von zwei wunderbaren Tenören, die zusammen als begeisterndes männliches Stimmensextett in ständig wechselnden Besetzungen die Zuhörer im Athenäum mitrissen, hingebungsvoll begleitet vom Barockensemble „Il pomo d’oro“ unter der Leitung des jungen russischen Dirigenten Maxim Emelyanychev.
Der junge spanische Tenor Juan Sancho, der die Rolle des Cato sang, überzeugte durch seine solide Stimmtechnik, sein interessantes Timbre und seine schauspielerische Gestik, wobei nicht klar wurde, ob er den Mund beim Singen deshalb nicht sehr weit öffnete, weil er den alten Cato, der zum Zeitpunkt seines Todes immerhin nicht einmal 50 Jahre alt war, physiognomisch verkörpern wollte, oder aus ganz anderen Gründen. Der zweite Tenor, der Österreicher Martin Mitterrutzner in der Rolle des Fulvio, beeindruckte durch die Ausgewogenheit und Homogenität seines musikalischen Vortrags, auch wenn ihm dieser vergleichsweise kleine Rollenpart wenig Gelegenheit gab, die ganze Bandbreite seines stimmlichen Könnens unter Beweis zu stellen.
Die beiden Frauenrollen dieser Oper wurden von Kontratenören in Sopranlage gesungen: der Amerikaner Ray Chenez verkörperte die Catotochter Marzia und der aus Südkorea gebürtige Vince Yi die Pompeiuswitwe Emilia. Die glasklaren, zuweilen vielleicht zu schmal konturierten Stimmen ergänzten sinnfällig das kokette Augen- und Mienenspiel der Sänger, und man hätte sich gewünscht zu sehen, wie sich die beiden Gesangsmimen in Frauenkostümen ausgenommen hätten.
Die Höhepunkte des Abends bildeten freilich die Auftritte des argentinischen Kontratenors Franco Fagioli in der Rolle Cäsars sowie des kroatischen Kontratenors Max Emanuel Cencic in der Rolle Arbaces. Wenn Fagioli seine Soprankoloraturen perlen ließ, hing man als Zuschauer förmlich an seinen Lippen, und wenn Cencic mit warmem rundem Alt Arbaces Liebesklage Ausdruck verlieh, wagte man kaum mehr zu atmen. Hier wurde Gesangskunst auf Weltniveau erlebbar und wahre Kunst fühlbar.
Bedauerlich nur, dass Vincis „Catone in Utica“ im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Mitternachtskonzerte“ dargeboten wurde! Die vierstündige Oper, die im Athenäum in einer um 45 Minuten gekürzten Fassung und mit nur einer Pause aufgeführt wurde, hatte unter einer massiven Abwanderung des Publikums zu leiden. Wer aber ausharrte und gegen Viertel nach zwei in den gleichwohl kräftigen Schlussapplaus einstimmte, wusste, was ihm in dieser Nacht zuteil geworden war.