Über Adolf Meschendörfer und Oscar Walter Cisek sind zahlreiche Studien, Aufsätze und Dissertationen verfasst worden. Zu erwähnen wären u.a. die wissenschaftlichen Arbeiten von Roxana Nubert, Edith Konradt, Annemarie Podlipny-Hehn, Gabriela Șandor sowie jene von Peter Motzan, Stefan Sienerth, Joachim Wittstock, Gerhard Csejka, Michael Markel, Bernd Kolf, Johann Holzner, Heinrich Stiehler, Alexander Ritter u.a.
Den beiden äußerst repräsentativen Schriftstellern aus Rumänien widmet die junge Germanistin Alice Buzdugan ihre 2020 im Vandenhoeck & Ruprecht Verlag Göttingen erschienene Dissertation mit dem Titel „Stadttexte in ‘Großrumänien‘. Nationale Propaganda und Kulturphilosophie im literarischen Werk von Adolf Meschendörfer und Oscar Walter Cisek“.
Bekanntlich setzte sich Adolf Meschendörfer (1877-1963) in seinem Erzählwerk konsequent für die siebenbürgisch-sächsische Minderheit ein, aus der er stammte, während Oscar Walter Cisek (1897-1966), dessen Familie aus Böhmen nach Bukarest emigrierte, in seinen literarischen Werken auf verschiedene Ethnien Altrumäniens wie Tataren, Armenier, Juden einging. Die Verfasserin stellte sich bei ihrer Recherche mit Recht die Frage, warum die Identitätsnarrative beider Grenzgänger nicht nur beim deutschen, sondern auch beim rumänischen und rumäniendeutschen Publikum erfolgreich waren, „obwohl ihre Adressaten divergierende Vorstellungen von den damit jeweils verbundenen Gruppenidentitäten hatten“ (S. 9). In einer Fußnote wird der Begriff „rumäniendeutsch“ als eine Sammelbezeichnung für die verschiedenen deutschen Gruppen mit jeweils eigener kollektiver Identität erklärt, die auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens leben. Weiterhin wird präzisiert, dass diese Bezeichnung von manchen Angehörigen dieser ethnischen Gruppen als Versuch wahrgenommen wurde, eine neue künstliche Identität zu schaffen und die Unterschiede zwischen ihren jeweiligen kollektiven Identitäten zu negieren. Buzdugan verzichtet aus Gründen der Lesbarkeit darauf, den Begriff in Anführungsstrichen zu setzen, wie es in manchen Studien der Fall ist.
Die These, die der Studie zugrunde liegt, besteht darin, dass die Gruppenidentitäten bei Menschendörfer und Cisek nicht die Lebensweise ethnischer Minderheiten im Zuge der neuen Nationalstaatlichkeit Rumäniens nach dem Ersten Weltkrieg darstellen, sondern als Ausdruck der eigenen kulturpolitischen Agenda beider Schriftsteller zu bewerten sind (S. 10f.). Um diese These zu belegen, zieht die Autorin drei Aspekte heran.
Erstens wird der ästhetischen und narrativen Komposition eine bedeutende Rolle im Hinblick auf die Konstruktion der nationalen Identität in der Literatur zugewiesen. Dabei stellt sich auch die Frage nach den propagandistischen Zwecken der Texte von Meschendörfer und Cisek. Buzdugan geht es darum, zu verfolgen, welche Strategien die beiden Schriftsteller anwenden, „um ihre fluiden nationalen Identitätsnarrative vor ethnisch divergierenden Adressaten zu legitimieren“ (S. 11). Ihre Prosa soll in ihren Verflechtungen mit deutschen, rumänischen und rumäniendeutschen postulierten Adressaten untersucht werden.
Zweitens geht die Verfasserin auf das Stadtmotiv ein, da die Stadt in der rumänischen und deutschen Literatur der Zwischenkriegszeit eine jeweils andere Stellung einnimmt und deshalb eine Analyse des Stadtmotivs, wie sie bei Meschendörfer und Cisek vorkommt, die Wechselwirkung der rumäniendeutschen mit der rumänischen und der deutschen Literatur gut veranschaulicht. Buzdugan gelangt zur Einsicht, dass sich zwar Cisek mit seinem Stadtkonzept dem expressionistischen Großstadtkonzept nähert, dieses jedoch in der Funktion unterschiedlich ist, denn es transportiert eine kulturpolitische, dem Expressionismus fremde Botschaft. Für Meschendörfer hingegen ist die Stadt Kronstadt/Bra{ov die einzige, heiß geliebte Heimat. Man kann in seinem Fall nicht von einer avantgardistischen Orientierung sprechen, die dem Expressionismus eigen war. Georg Simmels Großstadt als Inbegriff der Moderne liegt dem Stadtkonzept Ciseks zugrunde, während für Meschendörfer Kronstadt als Wiege der Siebenbürger Sachsen die einzigartige Wirklichkeit darstellt, die kein Vorbild kennt. Das heißt, dass die Stadt in der Auffassung der beiden Dichter nicht nur eine kollektive Erfahrung der Moderne symbolisiert, sondern auch eine nationale Dimension aufweist.
Die Rumänen, vor allem die Nationalkonservativen, denen Cisek politisch oft nahesteht, haben die Tendenz, die Dichotomie Stadt vs. Dorf zu ideologisieren und sich als bäuerliche Nation zu sehen. Die Siebenbürger Sachsen verstehen ihre Kultur eher als eine städtische, haben sie doch im Mittelalter mehrere urbane Zentren im Karpatenbecken gegründet.
Drittens werden die unterschiedlichen Einstellungen der beiden besprochenen Schriftsteller hinsichtlich der Ästhetik ihrer Werke beleuchtet, die eng mit dem Identitätsbegriff verbunden sind. Hier schließt die Dissertation eine Lücke, denn im Unterschied zu den viel erforschten politischen, kulturellen und ideologischen Diskursen im Großrumänien der 1920er und 1930er Jahre wurde der Zusammenhang zwischen der Ästhetik nationaler Identität und ihrer Auswirkungen auf die Prosa von Meschendörfer und Cisek bis dato nicht behandelt. Es soll demnach unter Beweis gestellt werden, dass ihre Prosa an der Grenze zwischen moderner Kulturphilosophie und nationaler Propaganda steht. Daraus ergeben sich originelle Überlegungen für die Interpretation der Texte und eine neue Positionierung der beiden Autoren im literaturgeschichtlichen Kontext.
Es werden die Romane „Die Stadt im Osten“ von Meschendörfer und „Unbequeme Liebe“ von Cisek näher analysiert, in denen die Städte Kronstadt, Bukarest und Galați vorkommen. Allerdings sind es nicht reale Ortschaften, sondern realistische Fiktionen, wie sie Buzdugan nennt. Cisek stammt aus Altrumänien und nimmt dieses Gebiet in seinem Werk wahr, während Meschendörfer aus der neu integrierten Provinz Siebenbürgen kommt und seine Heimat literarisch verherrlicht. Ihre unterschiedlichen Stellungen innerhalb der rumäniendeutschen Minderheit führten zu grundverschiedenen literarischen Zugängen zu diesen historisch unterschiedlichen Regionen, unterstreicht Buzdugan. Ausgehend davon, nimmt sie sich vor, einen Beitrag zu ihrer Rekontextualisierung zu leisten, was ihr aus wissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Perspektive auch gelingt.
Buzdugan erklärt in einem Unterkapitel des ersten Kapitels den Aufbau ihrer Arbeit. Ihre Dissertation ist in sechs Kapitel eingeteilt. Nach dem ersten Kapitel mit den einleitenden Bemerkungen folgt das zweite Kapitel über die zentralen Begriffe für die Textanalyse und die Methodologie, die den Definitionen der Erzählinstanzen zugrunde liegt. Im dritten Kapitel stehen die Ästhetik-Konzepte von Cisek und Meschendörfer im Mittelpunkt, auf denen ihre Stadttexte fußen. Es geht um eine „Ästhetik nationaler Identität“ der beiden Autoren und um die Erläuterung unterschiedlicher rumänischer Positionen. Dabei wird ins Auge gefasst, inwiefern sich Meschendörfer einer nationalsozialistischen Kunstauffassung bzw. Cisek einem rumänischen nationalkonservativen Diskurs nähert. Das vierte Kapitel untersucht den beinahe in Vergessenheit geratenen Text Ciseks „Unbequeme Liebe“ (1932), Kapitel fünf befasst sich mit dem für Meschendörfer und die Siebenbürger Sachsen emblematischen Roman „Die Stadt im Osten“ (1931) zwischen deutscher Kulturpolitik und „großrumänischer“ Zensur und bietet gleichzeitig eine intertextuelle Lesart der Stadt. Kapitel sechs stellt nochmals einen Vergleich von Ciseks und Meschendörfers Stadtbildern, Darstellungstechniken und Botschaften in den Vordergrund, wobei auch ein Überblick über die Stadttexte zwischen Ästhetik, Propaganda und Kulturphilosophie geboten wird. Die Danksagung, das Quellen- und Literaturverzeichnis sowie das Register schließen die Arbeit ab.
Die Dissertation von Alice Buzdugan ist ein lesenswerter literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Exegese der Stadttexte zweier bedeutender deutsch schreibender Schriftsteller aus Rumänien, ein lobenswertes Unterfangen, aktuelle Themen wie Multikulturalität, nationale Identitäten und ethnische Stereotypen zu eruieren. Cisek und Meschendörfer haben nicht nur einflussreiche kulturphilosophische Texte rezipiert, ihre Werke stehen vielmehr an der Grenze mehrerer Kulturen und Sprachen. Buzdugan macht deutlich, dass das Stadtmotiv die grundverschiedenen Zugänge zu ihren Romanen erst vereint. Diese Herangehensweise betrachtet sie als besonders ergiebig für die Untersuchung multikultureller Texte der Zwischenkriegszeit. Sie stellt gleichzeitig einen Ansatz für zukünftige Studien dar, denn sie dient vorbildhaft der Reflexion über moderne Kultur.