Nieselregen und ein grau verschlossener Himmel taten der Feststimmung zu Beginn der Deutschen Kulturtage Schäßburg/Sighișoara 2019 am Freitagnachmittag, dem 31. Mai, keinen Abbruch. Stadtbewohner, Reisende, regionale wie internationale Ehrengäste und die von Martha Szombati angeleitete Kindertanzgruppe „Burgspatzen“ des Demokratischen Forums der Deutschen in Schäßburg (DFDS) begaben sich kurzerhand in die evangelische Klosterkirche am Hauptplatz der Altstadt, um einander bei Grußworten und Volkstanzdarbietungen auf ein reichhaltiges Wochenendprogramm einzustimmen, das aufgrund Wiedereinweihung der spätromantischen und dreimanualigen Rieger-Orgel desselben Gotteshauses als mehrtägiges Ereignis musikalischer Prägung inszeniert wurde.
Hans Bruno Fröhlich, Stadtpfarrer der lokalen evangelischen Kirchengemeinde, und der DFDS-Vorsitzende Stefan Gorczyca, dessen federführende Präsenz vor Ort sich jederzeit auf das Organisationsgeschick und die helfenden Hände seiner Stellvertreter Andrea Rost und Dieter Fritsch stützen konnte, hießen den amtierenden und der PSD nahestehenden Schäßburger Bürgermeister Ovidiu Mălăncrăvean, die Vorsitzende der Heimatortsgemeinschaft (HOG) Schäßburg in Deutschland, Erika Schneider, und Harald Fratczak, Vizekonsul der Bundesrepublik Deutschland in Hermannstadt/Sibiu, herzlich willkommen. Nicht weniger ergeben begrüßt wurden auch Carmen Motronea, Kulturreferentin des Deutschen Konsulats Hermannstadt, Gertraud Schuller, Vorsitzende der Österreichischen Landsmannschaft (ÖLM) und Obfrau des Allgemeinen Deutschen Kulturverbandes Wien (ADK), Christoph Barthelt, Delegierter beider letztgenannter Einrichtungen, und Ernst Leonhardt, Vorsitzender der Schweizerischen Stiftung für Orgeln in Rumänien (SSOR).
Nach Eröffnungsklängen des Bläserchores der evangelischen Kirchengemeinde Schäßburg, makellosem Auftritt der „Burgspatzen“ und Begrüßungsansprachen wurden die Namen der Sponsoren der wenige Tage vorher abgeschlossenen Orgelrestaurierung bekannt gegeben. Dank finanzkräftiger Unterstützung seitens ÖLM, des ADK, der schweizerischen Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur, vertreten durch Geschäftsführerin Yvonne Funk, und der ebenfalls schweizerischen Accordeos Stiftung, vertreten durch Geschäftsführerin Iris Utz-Huwiler, hatten zweckbestimmte Eigenmittel aus den Kassen der lokalen evangelischen Kirchengemeinde und des Fonds für Nachhaltigkeit der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR) ausgereicht, den von der Orgelbauwerkstatt COT Honigberg/Hărman (Kreis Kronstadt/Brașov) für die gründliche Revision der Rieger-Orgel der Klosterkirche in Rechnung gestellten Gesamtbetrag zu stemmen.
Kantor Theo Halmen leitete zum ersten öffentlichen Konzert an dem restaurierten Vorzeigeinstrument des Baujahres 1906 über. Routiniert betätigte Gast Steffen Schlandt aus Kronstadt Manuale und Pedal des etwa 2200 Pfeifen zählenden Opus 1203 aus der Werkstatt der Gebrüder Rieger, die aus der Slowakei stammten, sich um die vergangene Jahrtausendwende in Siebenbürgen niedergelassen und 18 Ortsgemeinden der heutigen EKR mit kleinen, mittleren und großen Neubau-Instrumenten bestückt hatten. Abwechselnd zu Schlandts Interpretation dreier Orgelbearbeitungen bekannter Meisterstücke von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Tomaso Albinoni gab Jürg Leutert, Musikwart der EKR, leicht verständliche Einblicke in Geschichte und Fachwortschatz der Materie Orgelbau und ließ auch den Namen des Hermannstädter Kantors und gebürtigen Slowaken Ján Levoslav Bella (1843-1936) nicht unerwähnt, der stets für Auftragsvergabe an die Firma Rieger warb und hiermit in Schäßburg auf Erfolg stieß, jedoch Jahre später in Hermannstadt an seinem eigenen Arbeitsplatz infolge pfarramtlichen Drucks dem vergleichsweise billigeren Angebot der Firma Wilhelm Sauer den Zuschlag geben musste.
Ehe Steffen Schlandt eine Kostprobe langgestreckten Lautstärke-Anwachsens in bester Bruckner-Manier improvisierte, hierfür die Möglichkeiten der Walze der großen Rieger-Orgel in der Schäßburger Klosterkirche vollumfänglich aufspielen ließ und das Festkonzert mit einer Bearbeitung Bachs zeitlos berühmter „Ciaconna“ für Violine solo beendete, führte er auf Jürg Leuterts Moderation hin sämtliche neu erstrahlenden Einzelklangfarben des Instruments vor. Handwerker und Karrierestarter Árpád Ma-gyar, unter Anleitung der schweizerischen Mentoren Barbara Dutli und Ferdinand Stemmer, ausgebildeter Orgelbaumeister und Geschäftsführer der Werkstatt COT Honigberg, die dem Verantwortungsbereich der SSOR weitestgehend entwachsen ist und sich seit Herbst 2018 in wirtschaftlichem Selbstmanagement übt, darf sich die Autorschaft der stilecht durchgeführten Restaurierung eines edlen Klangbildes zweifelsohne als vielversprechende Visitenkarte anrechnen lassen.
Dem internationalen Kindertag entsprechend hielt der nachfolgende Samstag einen Programmpunkt bereit, der in rumänischer Sprache veranstaltet wurde und die Aufmerksamkeit kleiner Zuhörer und deren Eltern für sich entschied: Mittags um 12 Uhr führten Ursula Philippi an der Rieger-Orgel, Kurt Philippi am digitalen Schaltpult einer 50-teiligen Bilderfolge und Jürg Leutert an einem Paar Pauken das szenische Orgelmärchen „Die Bremer Stadtmusikanten“ auf. Einmal mehr entpuppte sich die mit dem Künstlerpseudonym Dan Faur unterzeichnete Übersetzung von Literat Avram Alfred Fechner (1911-1961) als Erfolgsgarant.
Zwei Stunden Ruhepause später empfing Orgelbauer Hermann Binder (Hermannstadt) Erwachsene im Sandersaal zu einem einstündigen Vortrag der Überschrift „Schäßburg im Netz siebenbürgischer Orgelgeschichte“. Detailgenau fügte er Querverbindungen geschichtsträchtiger Orts- und Personennamen zu einem Informationsnetz zusammen, das in direktem Verhältnis zum ehemaligen Wirtschaftsprofil Schäßburgs steht und die Nähe der Stadt zu Szeklergebiet und Burzenland hervorhebt. Kein Zufall ist die stilistische Verwandtschaft der Buchholz-Orgel der Schwarzen Kirche Kronstadt mit ihrem Schwesterinstrument von Carl Schneider in der evangelischen Kirche Agnetheln/Agnita, war doch Schäßburg Hermann Binder zufolge stets kulturell entscheidender Mittelpunkt Gesamtsiebenbürgens. Bestimmt hatte auch István Kolonics (Szekler Neumarkt/Târgu Secuiesc/Kézdivásárhely), der 1877 die Orgel des römisch-katholischen Doms zu Karlsburg/Alba Iulia erbaute, Schäßburg gekannt.
Ein lang erwartetes Nachmittagskonzert der Birmingham Festival Choral Society (Großbritannien) brachte volle Auslastung des Hauptschiffes der Klosterkirche. Chorleiter David Wynne führte ein 50 Stimmen starkes Ensemble, dem hauptsächlich leistungsbereite Ruheständler angehörten, durch ein anspruchsvolles Programm barocker, klassischer, romantischer und original englischer Tonsprache. Mit Hinzunahme von Auszügen aus Vivaldis „Gloria“, Mozarts „Laudate Dominum“ und des Mittelsatzes „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ aus dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms wurde der rote Faden gesponnen. Dennoch konnten weder Organist Kevin Gill als souveräner Interpret der Choralimprovisation op. 65 nr. 59 „Nun danket alle Gott“ von Sigfrid Karg-Elert an der Rieger-Orgel, der auch ein portables Begleitinstrument geschickt beherrschte, noch die begabte Solistin Alexandra Wynne (Sopran) und eine gewohnt britische Chorklangbreite über mangelhafte Intonation hoher Ensemblestimmen oder harsch entstellte Kraftdemonstrationen einzelner Tenöre hinwegtäuschen.
Sonntag, am 2. Juni, feierte Schäßburg unter Regie von Bischof Reinhart Guib und Stadtpfarrer Hans Bruno Fröhlich einen evangelischen Festgottesdienst in der Klosterkirche, der in ein Orgelkonzert mit Kantor Theo Halmen mündete. Der Aufmarsch traditionell siebenbürgisch-sächsisch gekleideter Tanz- und Trachtengruppen aus Sächsisch Regen/Reghin, Hermannstadt, Mühlbach/Sebeș und Schäßburg erfolgte nachmittags zu Blasmusik der Kapelle „Schäßburg Brass“. Gegenseitige Abschiedsgrüße und Hoffnungsaussprachen auf baldiges Wiedersehen innerhalb mittelalterlicher Ringmauern an der Großen Kokel/Târnava Mare klangen im Schänzchen, der Bastei vor dem Zinngießerturm/Bastionul Cositarilor, aus.
Wie wird es nach den Deutschen Kulturtagen 2019 um das ständige Musikangebot Schäßburgs bestellt sein? Eine Anfahrt zu Orchesterspielstätten der siebenbürgischen Nachbarstädte Kronstadt, Hermannstadt, Neumarkt/Târgu Mureș und Klausenburg/Cluj-Napoca erfordert mehrere Stunden Zeitaufwand. Für Musikwart Jürg Leutert liegt ein verblüffendes Ersatzangebot auf der Hand: „Auch wenn Schäßburg zurzeit kein eigenes Sinfonieorchester beschäftigt, steht trotzdem eines hier auf der Empore der Klosterkirche!“