Elfriede Jelineks 1988 am Schauspiel Bonn uraufgeführter und zwei Jahre danach erstmals publizierter Sprechtext „Wolken.Heim.“ hatte am 24. Mai unter der Regie von Friederike Heller im Stuttgarter Kammertheater Premiere. Der Titel des Jelinekschen Textes mag Reminiszenzen an Aristophanes’ Komödie „Die Vögel“ wachrufen, wo ein Luftschloss ohne Substanz, eine Phantasie ohne Realitätssinn oder eine Utopie ohne konkretes Ziel als „Wolkenkuckucksheim“ bezeichnet wird.
In Jelineks Text handelt es sich in der Tat auch um phantasmagorische Ideen, Ideen freilich, die im Laufe der deutschen Geschichte todbringende Wirkung entfaltet haben und Realitäten setzten, an deren Bewältigung nach wie vor zu arbeiten ist. Solche Ideen sind etwa das Superioritätsbewusstsein oder der Auserwähltheitsgedanke, die Furcht vor den Fremden und der Hass auf die Anderen, das Bestehen auf Heimat und Boden, die Abschottung gegenüber allem Ausländischen, die eigene Identität als fester Besitz. Fast monomanisch wiederholen sich in Jelineks Text Phrasen wie „wir sind bei uns zuhaus“, „uns gehören wir“, „wir sind hier“, „wir sind wir“.
Jelineks Text „Wolken. Heim.“ setzt sich zu einem großen Teil aus Zitaten zusammen, die freilich, durch verquere Montage und verfremdende Collage, permanent in sich gebrochen werden und so weite Assoziationsräume aufreißen, die ins Zentrum der Auseinandersetzung mit dem deutschen Wesen, der deutschen Seele und der deutschen Geschichte führen. Um den Jelinekschen Text in seiner historischen Sprengkraft zu würdigen, muss man ihn, bei der Lektüre oder beim theatralischen Hören, paradoxerweise zunächst einmal enthistorisieren. Denn sonst gerät man auf den apologetischen Holzweg, Hölderlin, Hegel, Fichte oder Kleist ständig gegen den Vorwurf in Schutz nehmen zu müssen, diese seien Vorläufer, Wegbereiter oder gar Steigbügelhalter der nationalsozialistischen Ideologen.
Jelineks Text legt diese falsche Fährte, um die genannten Dichter und Denker – Heidegger wäre hier ebenso zu nennen – umso deutlicher und umso wirkmächtiger beerben zu können: nämlich in der hymnischen Kraft und der beseligenden Schönheit ihrer Sprache. Wenn aber Hölderlinsche Odenkunst plötzlich umbricht in dokumentarische Texte von Inhaftierten der Rote Armee Fraktion, wenn hinter erhabenen lyrischen Gesängen plötzlich die Gespenster des Rassismus und der Xenophobie sichtbar werden, dann entsteht eine explosive Textmischung, die immer wieder erneut zündet, zumal die Akteure der Stuttgarter Bühnenfassung die Explosivität des Textgemischs durch Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung in ihrem artistischen Sprechen permanent anreichern.
Die 1974 in Berlin geborene Regisseurin Friederike Heller hat den Sprachfluss und den Redestrom dieses Sprechstücks „Wolken. Heim.“ von Elfriede Jelinek auf vier Schauspielerinnen verteilt, die sich allesamt durch die Sprachkraft der Jelinekschen Textmontage mitreißen ließen und dem Dramentext zahlreiche individuelle Valeurs beimaßen, wie sie ihm zugleich besondere Effekte reichlich abgewannen. Während Josephine Köhler, die als erste von den Vieren das Wort ergriff und am Ende auch den Epilog sprach, sich auf der Bühne frei bewegen konnte, waren die drei anderen Schauspielerinnen in drei große fahrbare Kuben gesperrt, die allesamt wie Gefängniszellen, Käfige oder Vitrinen wirkten, jeweils aber Wohninnenräume der fünfziger, siebziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts repräsentierten.
Christiane Roßbach verkörperte am Küchentisch das Heimchen am Herd aus der Zeit des Wirtschaftswunders, wo Kühlschrank und Radio beginnenden Wohlstand anzeigten; Therese Dörr spielte die emanzipierte, hippiegleich kiffende, körperbewusste und selbstbestimmte junge Frau mit einem Regal voller Bücher als intellektuellem Statussymbol und mit einem orientalischen Ledersitzkissen als zeittypischem Accessoire; und Celina Rongen schließlich verkörperte die auf Karriere bedachte moderne Yuppiefrau, die zwischen Mikrowelle, Computer und bequemem Sitzsack ihr erfolgreiches Singledasein fristet. Der Boden in allen drei Kuben bestand durchweg aus Erde, die auch im Jelinekschen Text immer wieder beschworen wird: als Heimat, als Grab, als Abgrund, als Schwäre, die immer wieder aufbricht und die Leidenden nicht zur Ruhe kommen lässt. „Uns ist gegeben, an keiner Stätte zu ruhn. Der Boden hält uns nicht, er gibt uns wieder her.“ Die die dramatische und zeitgeschichtliche Gegenwart verkörpernde Josephine Köhler, die gegen Ende des achtzig Minuten dauernden Sprechstücks gar als Hochschwangere auftritt und rittlings über dem Küchentisch im buchstäblichen Sinne des Wortes Erde gebiert, verdeutlicht damit die anhaltende Virulenz der Rede von Blut und Boden, oder um ein Zitat von Bertolt Brecht zu bemühen: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“
Die drei Kuben, die mit ihren Frontwänden aus Plexiglas den Zuschauern ihr eigenes Spiegelbild immer wieder verzerrt zurückwerfen, erscheinen anfangs hermetisch verschlossen, werden dann aber partiell transparent oder auch völlig durchsichtig, ihre Rückseiten sind gar offen, wenngleich durch Maschendrahtgeflechte zugegittert. Wie die Sprache des Dramentextes sich immer wieder plötzlich und unerwartet öffnet, so werden auch die drei Kuben durch ihr permanentes Manövriertwerden auf der Bühne in unterschiedliche Stadien der Transparenz gerückt, die deutlich machen, dass in allen historischen Epochen der Zeit nach dem Ende des Dritten Reiches der Ungeist des Nationalsozialismus, wenn auch auf je verschiedene Weise, immer noch da ist und durchscheint.
Der Regisseurin Friederike Heller und den vier genannten Schauspielerinnen bzw. Sprecherinnen ist es gelungen, den sprachlich, intellektuell, geistesgeschichtlich und zeithistorisch höchst anspruchsvollen Text „Wolken.Heim.“ von Elfriede Jelinek sowohl lebendig zu gestalten als auch inhaltlich verständlich zu machen und dabei gleichzeitig schauspielerisch hinreißend zu agieren, wobei die beeindruckenden Yogapositionen von Therese Dörr und die akrobatischen Kletterpartien von Josephine Köhler besondere Erwähnung verdienen. Der majestätische Redefluss des Textes von „Wolken. Heim.“ strömte dabei unaufhaltsam fort und fort, wie in den klassischen Flussgedichten von Goethe („Mahomets Gesang“) oder Hölderlin („Der gefesselte Strom“).
Die dominanteste Stimme in der Polyphonie der Jelinekschen Textmontage ist diejenige Friedrich Hölderlins, und jener große schwäbische deutsche Dichter bewahrt den Leser wie den Hörer von „Wolken. Heim.“ vor dem Fehlschluss, die Erhabenheit klassisch-idealistischer Hymnen rede einem Totalitarismus das Wort, welcher freilich tatsächlich am Ende jener geschichtlichen Entwicklung stand, deren Stationen von Franz Grillparzer 1849 prophetisch-epigrammatisch in die Worte gefasst wurden: „von Humanität durch Nationalität zur Bestialität“!