Jüngst erschien im Verlag der Rumänischen Akademie unter dem Titel „On Form and Pattern“ (Über Form und Struktur) ein Sammelband, der einen Großteil der Vorträge enthält, die im Mai letzten Jahres im Rahmen einer interdisziplinären wissenschaftlichen Tagung in Bukarest gehalten wurden. Das unter demselben Thema „On Form and Pattern“ stehende Symposium wurde seinerzeit von der Alexander von Humboldt-Stiftung, einer der wichtigsten Forschungsförderorganisationen der Bundesrepublik Deutschland, finanziell unterstützt und vom Humboldt-Club Rumänien, der rumänischen Alumni-Vereinigung der Humboldt-Siftung, veranstaltet und organisiert.
Herausgegeben wurde das nun in Buchform vorliegende Ergebnis der Tagung von dem Mediziner Cătălin Vasilescu, der Biologin Maria-Luisa Flonta und der Germanistin Ioana Crăciun. Peer-Reviewer der interdisziplinären Publikation waren zwei Mitglieder der Rumänischen Akademie: der Chemiker Marius Andruh und der Philosoph Mircea Flonta. Der 520 Seiten umfassende und mit finanzieller Unterstützung der Humboldt-Stiftung gedruckte Sammelband ist in englischer Sprache abgefasst, mit Ausnahme von sechs germanistischen Tagungsbeiträgen, die auf Deutsch publiziert sind. Ein Verzeichnis der Beiträger und ein umfangreicher Bildteil (58 Seiten) beschließen den Band, der durch ein Vorwort des Präsidenten des Humboldt-Clubs Rumänien, Cătălin Vasilescu, eingeleitet wird.
In diesem Vorwort betont Cătălin Vasilescu die grundlegende Bedeutung des Formbegriffs für nahezu alle Geistes- und Naturwissenschaften. Mediziner und Biologen beschäftigen sich mit Morphometrie und Morphogenese, Fraktalanalyse und Mustererkennung (pattern recognition), Chemiker und Physiker mit Reaktionsdiffusionsgleichungen und Kristallzüchtung, Mathematiker mit Chaostheorie und Fraktalen. Ingenieure und Computerwissenschaftler befassen sich mit Mustererkennungsverfahren, etwa mit Hilfe der Viola-Jones-Methode, die Gesichtserkennung in digitalen Bildern ermöglicht. Überall spielt der Formbegriff eine zentrale Rolle, in Archäologie, Geografie und Geologie, in Architektur und Stadtplanung, in der Bildenden Kunst wie in Philosophie und Philologie.
Aber haben, um beliebige Beispiele zu geben, Landformen, lexikalische Formen, archäologische Artefakte und die Morphogenese maligner Tumore auch tatsächlich etwas gemein? Handelt es sich, wenn man in diesen Fällen von Form spricht, nicht nur um zufällige lexikalische Übereinstimmungen oder bloße Wortassoziationen? Cătălin Vasilescu verneint diese Fragen in seinem Vorwort zum Sammelband „On Form and Pattern“ entschieden und begründet dies erstens mit der allen Wissenschaften gemeinsamen Frage- und Problemstruktur, wenn nach der Definition von Form, ihrem Maß, ihrer Messung, ihrer Genese und ihren prozessualen Verläufen gefragt wird. Zweitens generiert die Frage nach der Form auch gemeinsame Forschungsmethoden, die interdisziplinär Anwendung finden und von denen einzelne Wissenschaften, indem sie sie von anderen übernehmen, auch innovative Impulse für ihre eigenen Forschungsintentionen empfangen können.
So ist der Formbegriff selbst ein Symbol für die Interdisziplinarität modernen wissenschaftlichen Denkens, die etwa in der fächerübergreifenden Anwendung von Forschungsmethoden wie der Fraktaltheorie, der digitalen Bildverarbeitung oder der Statistik längst Wirklichkeit geworden ist.
Dass der Begriff der Form bei dieser Publikation im Verlag der Rumänischen Akademie auch editorisch ernst genommen wurde, springt sofort ins Auge, wenn man den schönen Band vor sich sieht und dann auch in die Hand nimmt: ein edler Hardcovereinband mit einem ansprechenden Design in Grüntönen, das einem modernen Kunstwerk, einer industriell erzeugten Produktoberfläche oder auch einer informationell generierten optischen Struktur entnommen sein könnte. Beim Aufschlagen verweilt man zuerst beim umfangreichen Bildteil, der farbige Hochglanzfotos enthält, die einzelnen Beiträgen des Bandes zugeordnet sind. Man stößt hier auf Schaubilder für mathematische Darstellungen, Kristallmodelle und Objekte in Magnetfeldern, schematische Darstellungen von Lichtdioden und Strahlungsnachweisen, Kontrollbilder zum Nachweis von Umweltverschmutzung, Veranschaulichungen der Ponzo-Täuschung und anderer optischer Täuschungen, mikroskopische Aufnahmen von Krebsgeschwülsten, eine Miniatur aus der Manessischen Liederhandschrift, Aufnahmen von Spiralnebeln, Domkuppeln und Fassaden, modernen Kunstwerken, zeitgenössischen architektonischen Schöpfungen und archäologischen Stätten und Relikten.
Der Tagungsband ist in sechs umfangreiche Kapitel gegliedert. Auf den ersten philosophischen Teil „Form and Logic“ mit Beiträgen von Mircea Dumitru, Alexandra Cornilescu und Ana Bazac folgt ein gewichtiger zweiter Teil „Form and Numbers“, der komplexe mathematische Beiträge von Tiberiu Postelnicu, Radu Iordănescu, Marian Aprodu und Mihalea Roxana Nicolai, aber auch einen Beitrag zum Thema nachhaltiger umweltgerechter Entwicklung von Ildiko Tulbure enthält. Das dritte Kapitel „Inanimate Form“ versammelt sechs Beiträge, von denen vier Gemeinschaftsarbeiten rumänischer Physiker, physikalischer Chemiker und Umweltwissenschaftler sind, die durch Einzelbeiträge der physikalischen Chemikerin Domnina Răzuş und der Archäologin Nona Palincaş ergänzt werden. Im vierten Kapitel „Living Form“ finden sich drei medizinische Kollektivbeiträge zur Krebs- und Stressforschung, aber auch Einzelbeiträge des Computerwissenschaftlers Radu Dobrescu, des Mathematikers Eleodor Gh. Bistriceanu, der Biologin Maria-Luisa Flonta sowie des Spiritus Rector des Humboldt-Symposiums wie des Tagungsbandes, des Mediziners Cătălin Vasilescu. Darauf folgt das germanistische Kapitel „German Studies“ mit Beiträgen von Ioana Crăciun, Bianca Bican, Mihaela Zaharia, Ana-Maria Pălimariu und Gabriel H. Decuble in deutscher Sprache sowie einem Beitrag von Andrei A. Avram über Kolonial-Deutsch in englischer Sprache.
Das sechste Kapitel „Form and Visual Arts“ versammelt Beiträge zur Architektur (Mihaela Criticos, Ana-Maria Crişan, Kázmér Kovács, Anca Vitu), zum digitalen Design (Dana Tănase, Ionuţ Anton) und eine hermeneutische Studie von Matei Stîrcea-Crăciun zu Brâncuşis Steinskulptur „Der Kuss“. Eine Liste mit Kontaktdetails der Autorinnen und Autoren beschließt den lesenswerten Band, der nicht nur von der Lebendigkeit der Ideen Alexander von Humboldts im heutigen Rumänien zeugt, sondern auch den qualitätsvollen Beitrag der rumänischen Humboldtianerinnen und Humboldtianer zu den Forschungsaktivitäten der weltweiten Humboldt-Familie, ja der ‚global scientific community’ insgesamt, eindrücklich unter Beweis stellt.