Vom 16. bis 22. Oktober fanden in Bukarest, nun bereits zum zehnten Mal, die Deutschen Filmtage statt. Das vom Goethe-Institut veranstaltete Filmfestival versammelte auch in diesem Jahr wieder herausragende Spielfilme und Dokumentationen, die einen Einblick in die deutsche Filmkunst der Gegenwart gewährten. Die von dem rumänischen Filmkritiker Andrei Rus kuratierte Auswahl versuchte, der ganzen Bandbreite des heutigen Filmschaffens deutscher Provenienz gerecht zu werden: von populären Filmen bis zu Avantgarde-Filmen, von epischen Geschichten bis zu Dokumentationen, von Kultfilmen bis zu tiefgründigen psychologischen Studien.
Da einer der insgesamt vierzehn bei den Deutschen Filmtagen auf dem Programm stehenden Filme, nämlich Oskar Roehlers Streifen „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk“, nicht gezeigt werden konnte, kam das Publikum in den Genuss einer zweiten Projektion desjenigen Films, mit dem die zehnte Folge der Deutschen Filmtage in Bukarest auch eröffnet wurde: des Spielfilms „Victoria“ von Sebastian Schipper.
Der 140 Minuten dauernde, schnittlose, in nur einer einzigen Kameraeinstellung gedrehte Film hatte am 7. Februar dieses Jahres als offizieller Wettbewerbsbeitrag auf der 65. Berlinale seine Premiere. Dort wurde er auch mit dem Silbernen Bären für die beste Kamera, geführt vom norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, ausgezeichnet. Bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises im Juni dieses Jahres erhielt „Victoria“ gleich sechs Auszeichnungen: für den besten abendfüllenden Spielfilm, für die beste Regie, für die beste Filmmusik, für die beste Kamera und für die beste darstellerische Leistung seiner weiblichen und männlichen Protagonisten (der spanischen Schauspielerin Laia Costa in der Rolle der Victoria und des deutschen Schauspielers Frederick Lau in der Rolle des Sonne).
Auch das deutsche Feuilleton war hingerissen von Sebastian Schippers Meisterwerk und sparte nicht mit Superlativen: „ein irrsinniges Experiment, ein fantastischer Film, der das deutsche Kino nachhaltig durchrütteln wird“ (ZEIT); „eine absolute Wahrheit, die sich entfaltet, alles in einem Take“ (SZ); „alles, was man sich vom heutigen Kino erhoffen kann“ (FAZ); „ein mitreißender 140-Minuten-Rausch aus Gangsterkino, Männerfreundschaft und Berliner Nachtleben“ (Spiegel).
Und in der Tat erzeugt „Victoria“, nach einem auf den ersten Blick langweiligen Beginn in einer Berliner Kellerdisco, einen immer stärker vorwärts drängenden, geradezu rauschhaften Sog, der der Echtzeitfiktion des Streifens und der grandiosen Kameraarbeit von Sturla Brandth Grøvlen geschuldet ist. Seine digitale Handkamera stürzt sich, wie sämtliche Protagonisten des Films, in den Wirbel und Strudel des Geschehens, schlüpft in deren Körper, umkreist sie, verfolgt sie, eilt ihnen voraus und lässt den Zuschauer dabei Raum und Zeit vergessen. Drei Monate lang probte Sebastian Schipper mit seinen Darstellern an dieser Monumentalsequenz, drei komplette Durchläufe wurden gedreht, wobei die dritte Version dem fertigen Film „Victoria“ entspricht.
Mit „Victoria“ versuchte sich Sebastian Schipper an der Form des klassisch-aristotelischen Dramas, einer Form des Theaters also, mit den Mitteln der modernsten Film- und Videotechnik. Die Einheit des Ortes (auch wenn es sich um insgesamt 22 Locations handelt) ist gewährleistet, wie die der Zeit und der Handlung. Andere berühmte Regisseure vor ihm wie Alfred Hitchcock in „Rope“ oder jüngst Alejandro Iñárritu in „Birdman“ haben diesen Versuch gewagt, mit dem Film Theater schaffen und authentische Gegenwart auf die Bühne der Leinwand holen zu wollen.
Eine Hauptrolle in diesem Film spielt, auch wenn sie im Cast-Abspann nicht namentlich genannt wird, die deutsche Hauptstadt Berlin. Sie stellt die Schauplätze bereit: die Kellerdisco, den Tag und Nacht geöffneten Minimarkt, die nächtlichen und morgendlichen Straßen, das Café am Eck, die Polizeistreife, die Tiefgarage, das Hochhaus, von dem man auf die Dächer Berlins herabblicken kann, die Reste der Berliner Mauer, die Bank, die überfallen wird, die Wohnsiedlung, in die sich die Verbrechergang flüchtet, das Grand Hotel Westin, in dem Sonne schließlich stirbt. Außerdem lebt und spielt Berlin auch in seinen Bewohnern, etwa in dem Original eines Berliner Taxifahrers oder in dem Fußgänger, der frühmorgens um fünf Uhr die tollende Außenseiterbande darauf hinweist, dass das ein Gehsteig sei, auf dem Radfahren grundsätzlich verboten ist.
In das Bewegungsgewühl des Filmgeschehens mischt sich dann noch ein geradezu babylonisches Sprechgewirr, das sich aus dem Berliner Dialekt, Versatzstücken der Jugend- und Szenesprache, bad simple English und einigen Brocken Hochdeutsch zusammensetzt. Die sprichwörtliche Berliner Schnauze und der typische Berliner Humor tragen nicht wenig zum Gelingen des Filmes bei, der fortlaufend von der Musik des deutschen Pianisten, Komponisten und Solokünstlers Nils Frahm untermalt wird.
Grandioses schauspielerisches Kraftzentrum des Films ist die dreißigjährige spanische Darstellerin Laia Costa, die, zunächst unscheinbar wirkend, sich nach und nach an das Niveau einer Jean Seberg in Godards Kultfilm „À bout de souffle“ (Außer Atem) heranspielt. Wunderbar, wie sie in der Szene, in der sie am Klavier den Lisztschen Mephisto-Walzer mimt, Victorias ganzes persönliches Unglück, ihre abgebrochene Pianistenkarriere, in wenigen Gesten auf die Leinwand bringt. Victoria wird zusehends zum Motor des Filmgeschehens, das alle Höhen und Tiefen menschlichen Lebens durchmisst.
Aber der Film hat und nimmt sich für all das keine Zeit. Paradox ausgedrückt: Er schafft Totalität, gerade indem er sie ausspart. Boxers Knacki-Vergangenheit, Sonnes Melancholie, Blinkers und Fuß’ Orientierungslosigkeit, Victorias Tragik, aller Flucht in den Rausch, Flucht vor dem Leben, Flucht in den Tod – dies und noch viel mehr, etwa die ungelebte Liebe zwischen Sonne und Victoria, klingen im Film an, bereichern ihn, ohne anders als en passant in Erscheinung zu treten. Die in „Victoria“ gezeigten Nacht- und Morgenstunden bergen und verbergen die Fülle des Lebens, „um das die Wimpel deiner Träume hangen“ – um Ernst Stadlers gleichnamiges Gedicht zu zitieren – und das doch unrettbar auf den Tod zuläuft.