Es sind zutiefst europäische Texte. Was er an ihnen so schön findet ist, dass sie von ganz einfachen, manchmal sehr intimen privaten Situationen ausgehen und ohne moralisierend zu werden oder mit dem Holzhammer drauf zu hauen ins Hochpolitische und Gesellschaftskritische gelangen. So beschrieb der österreichische Regisseur Reinhold Tritscher die Stücke des katalanischen Dramatikers Esteve Soler. Im vergangenen Jahr hatte Tritscher beim Internationalen Theaterfestival in Hermannstadt/Sibiu Alexandru Dabijas Inszenierung von „Gegen die Demokratie“ an der deutschen Abteilung des Radu-Stanca-Theaters gesehen. Die Vorstellung hatte ihn beeindruckt und im kurzen Gespräch mit dem anwesenden Autor „sprang der thematische Funke rüber“. Der Regisseur las die Texte und ihm war klar, eine Inszenierung muss in einer internationalen Zusammenarbeit stattfinden, erklärte er auf der Pressekonferenz.
Das Ergebnis der Kooperation zwischen dem Spielleiter und dem ebenfalls aus Österreich angereisten Bühnenbildner Alois Ellmauer mit dem Hermannstädter Ensemble war die Premiere von Esteve Solers „Gegen den Fortschritt“ am Montagabend, dem 10. Februar, in Hermannstadt. Sie ist Teil der umfassenderen Zusammenarbeit des Hermannstädter Theaters mit dem Odeion Kulturforum Salzburg, wo das Stück morgen innerhalb der Integrale der „Contra“-Trilogie (wie bereits berichtet) geboten wird. Die aus mehreren Szenen zusammengebauten Stücke der Trilogie (neben Fortschritt und Demokratie gibt es ein „Contra-Liebe“-Stück) werden mittlerweile in der ganzen Welt auf die Bühne gebracht. Nachdem sie anfangs auf Unverständnis stießen, wie der katalanische Dramatiker 2013 bei seinem Besuch in Hermannstadt erzählte. Die in die Stücke gepackte Gewalt wird in den meisten der Szenen humorvoll aufgelöst, der aus dem Alltag inspirierte Horror mit Elementen der Komödie kombiniert. Seine Absicht sei es zu schockieren, gab Soler zu. Wenn die Zuschauer mit Fragen aus dem Saal gehen, dann habe das Stück seine Wirkung erreicht, sagte er.
Mit krausen Stirnen bis hin zu blankem Entsetzen verließen einige der Zuschauer am Montagabend den Theatersaal. Die Aktualität und Brisanz der angesprochenen Themen wurde nicht in jeder der sieben Szenen so klar, dass man die Auflösung leicht verstehen konnte. Liegt es am Text oder lag es an der Interpretation? Auch schimmerte der Humor weit weniger durch als in „Gegen die Demokratie“. An den Zuschauern blieb eine große Dosis vom Sarkasmus, der Brutalität und dem Gefühl der Ausweglosigkeit hängen. Das Ringen mit den gesellschaftlichen Umständen ist das Beste, was Theater tun kann, hatte der Regisseur gesagt. Johanna Adam, Daniel Bucher, Wolfgang Kandler und Daniel Plier gelang es auch diesmal, in ihren Rollen zu überzeugen. Sie agieren im kargen Bühnenbild, zu den live von Dorin Pitaru gespielten Gitarrenklängen, die von sanft bis hin zu höllisch wirken.
Relativ harmlos geht es in der ersten Szene zu, wo das aus dem Fernseher ins Zimmer gepurzelte Kind im Müllsack entsorgt wird. Probleme der Welt, mit denen man nicht konfrontiert werden will, wirft man weg. Schwerverletzten zu helfen, ist nicht jedermanns Gebot, der Sensationshunger lässt dann den Anwesenden schon eher mit dem Handy ein Foto vom Toten machen. Die Absurditäten und Spleens von Konzerndirektoren wurden in der dritten Szene auf die Schippe genommen, die Konsumgesellschaft in der vierten und diese beiden wurden am komödienhaftesten gebracht. Danach erstarrte das Lachen: Das zeitgenössische Rotkäppchen endet – in Zeiten der zur Schau gestellten Kriminalität – mit blutigem Mord, ewige Liebe gibt es nicht mehr, also werden Eheverträge für die Dauer eines Jahres geschlossen. Um die Gefahr der Überpopulation in den Griff zu kriegen, tötet die Robbe in der letzten Szene Babys. Weder Gott noch die Technik haben den Menschen beim Lösen der Probleme geholfen und Wissen hat sie, wie es die Waffenarsenale beweisen, nur gefährlicher werden lassen. Das individuelle Bewusstsein macht sie lüstern und geil, sie vermehren sich und zerstören die Umwelt. In „Gegen den Fortschritt“ lässt Esteve Soler zu dieser Feststellung die Robbe morden, in „Gegen die Demokratie“ wird der nutzlose Esser von seinen Eltern entsorgt.
Jede der Szenen bietet dem Zuschauer sehr viel Platz zum Nachdenken und zum Interpretieren. Verkraften muss er jedoch das vordergründige, sehr pessimistische Menschenbild. Bleibt zu hoffen dass er es schafft, den hintergründigen Wunsch nach Menschlichkeit zu erkennen. Und es der Menschheit gelingt, die Nebenwirkungen des Fortschritts in den Griff zu kriegen.