„Schäßburg ist ein interkulturelles Mekka“

20 Ausgaben ProEtnica – ein Festival für friedliches Zusammenleben

Gute Stimmung mit der Bukarester Klezmer-Band | Fotos: George Dumitriu

Die türkisch-tarische Tanzgruppe „Can Renkler“ aus Topraisar, Kreis Konstanza, hat den Preis für die schönsten Trachten gewonnen.

Die türkisch-tarische Tanzgruppe „Can Renkler“ aus Topraisar, Kreis Konstanza, hat den Preis für die schönsten Trachten gewonnen.

Tanzgruppen und Zuschauer im gemeinsamen Reigen nach der Vorstellung

Tanzgruppe des ungarischen Volkstheaters „Bekecs“ aus Miercurea Mirajului

Präsentation der „Andreanum“-Ausstellung, Klosterkirche

Ricky Dandel rockt auf dem Burgplatz

Tanzensemble „Haverim“ der jüdischen Gemeinschaft aus Bukarest

Details einer tatarischen Tracht aus der Dobrudscha

„Die Bewahrung von Traditionen interessiert mich gar nicht“, provoziert Volker Reiter, der Begründer des interkulturellen Festivals ProEtnica, das nun schon zum 20. Mal in der Festung von Schäßburg/Sighișoara vom 28. August bis zum 1. September ausgetragen wurde. Seit der ersten Ausgabe im Jahr 2000 haben über 10.000 Vertreter der nationalen Minderheiten daran teilgenommen und rund 200.000 Besucher mit ihren Trachten, Tänzen und Traditionen begeistert. Während des fünftägigen Festivals wird die Plurikulturalität Rumäniens hautnah spürbar – und erlebbar in Klängen aus Liedern und Sprachen, in Formen und Farben der Trachten, dies nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf dem Burgplatz, wo sich nach jeder Darbietung alle zum Reigen an den Händen fassen oder ausgelassen tanzen. Tatsächlich, der Schein trügt: die ethnische Identität der 20 nationalen Minderheiten Rumäniens steht hier nicht im Vordergrund. Sie ist tatsächlich nur Mittel zum Zweck für ein höheres Ziel...

„Traditionen waren irgendwann auch Innovationen und Bräuche ändern sich – hoffentlich“, sagt Volker Reiter. „Mir geht es also nicht um die Bewahrung eines Zustandes aus der Vergangenheit, um die Bewahrung ethnischer Identitäten. Mir geht es um die Konsolidierung des sozialen Friedens in der einen demokratischen und pluralistischen Gesellschaft durch die Förderung von Begegnung und Interaktion von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft“, präzisiert der 1998 als 28-jähriger Kulturassistent vom Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart (ifa) an das deutsche Forum in Schäßburg Entsandte, der sich seither in Rumänien – auch familiär – festgebissen hat. 

Interkulturelle Drehscheibe in der Schanzgasse

Schon damals reifte in ihm die Idee, in der Festung von Schäßburg eine Jugendbildungsstätte aufzubauen. Die Ratifizierung des Stabilitätspaktes für Südosteuropa als Reaktion auf die ethnischen Konflikte in Ex-Jugoslawien lieferten schließlich die Chance. Die Bundesrepublik Deutschland suchte damals Projekte, durch welche die Ziele des Stabilitätspaktes umgesetzt werden können, „und ich habe bescheiden gefragt, ob ein interethnisches Jugendbildungszentrum ein geeignetes Projekt wäre.“ Die Antwort lautete Ja.

Gut 24 Jahre später: Das in der Schanzgasse 4-6 ansässige Interethnische Kultur- und Jugendbildungszentrum (ibz), auch Jugendherberge mit 80 Betten, verwandelt sich jedes Jahr in der letzten Augustwoche in einen interkulturellen Tummelplatz. Auf den Holzbänken beim Frühstück, beim Schlangestehen zum Mittag- oder Abendessen, hört man Armenisch oder Deutsch, drängen sich Pluderhosen an paillettenbesetzten Sarafan-Kleidern oder T-Shirts und Jeans vorbei, lachen, scherzen, rufen durcheinander. Ein Praktikant brüllt in die Küche: soundsoviele Portionen ohne Schweinefleisch! Mittendrin die rührige „șefa“, von frühmorgens bis spät abends auf den Beinen, Victorița Reiter. 

Die Jugendlichen sind stolz, ihre Trachten und Tänze zu zeigen. Doch der eigentliche Spaß ist das Miteinander, die Freundschaften, die hier geknüpft wurden, die Gemeinschaft, die in all den Jahren entstanden ist. Heute sind die ersten Teilnehmer der Minderheiten jene, die ihre Kinder zu ProEtnica schicken, erzählt Reiter. 

An die Atmosphäre der Anfangsjahre erinnert sich auch Zoltan Demeter von der Roma-Stiftung Ion Budai-Deleanu gerne: „Wie sich die Tanzgruppen abends getroffen haben, miteinander gekocht und diskutiert haben oder nach dem Auftritt zusammen ausgegangen sind, mal war der israelische Botschafter, mal ein Abgeordneter oder der Kulturminister dabei – das war einzigartig, das war neu in Sighișoara!“ Begeistert ruft er: Sighișoara ist ein interkulturelles Mekka!“

Steiniger Weg zum Erfolg

Der Aufbau des Interethnischen Jugendbildungszentrums wurde von 2000 bis 2004 durch das Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart gefördert. Damit ging auch die maßgebliche Finanzierung der ersten vier Ausgaben von ProEtnica einher. Danach nahm der Anteil der rumänischen Regierung durch das Departement für interethnische Beziehungen (DRI) und das Kulturministerium ständig zu. Seit 2005 wird ProEtnica maßgeblich von der rumänischen Regierung und von rumänischen Lokalbehörden finanziert. 

Seitens des DRI wurde ProEtnica von Anfang an vom damaligen Unterstaatssekretär Ovidiu Ganț unterstützt, danach von Zeno Pinter und Christiane Cosmatu. Im Mandat der ehemaligen Staatssekretärin Laczikó Enikö Katalin wurde das DRI  zunehmend zum Partner. Schmunzelnd erzählt Laczikó: „Anfangs war ich kein Festival-Fan, ich wollte etwas mit mehr Sinn, nicht nur Tänze und Trachten.“ Aber da hatte sie selbst noch nicht teilgenommen, wie sie gesteht. Ein paar Jahre später traf sie Volker Reiter. „Wir diskutierten und entdeckten schnell Gemeinsamkeiten“: Etwa, dass nicht nur die folkloristische Pracht, sondern auch die Probleme der Minderheiten oder ihre in Rumänien oft weniger bekannten Persönlichkeiten präsentiert werden sollten. „Und dass wir auch mit sensiblen Themen stören!“, betont sie. „Ein Trend, der von den Unterstaatssekretären Dincer Geafer und Thomas Șindilariu dankenswerterweise vertieft wird“, freut sich Reiter. 

2016 war Staatspräsident Klaus Johannis erstmals Schirmherr über das Festival. In diesem Jahr ist er es erneut. 

Doch nicht immer lief alles problemlos: 2010 und 2011 gab es eine schmerzhafte Pause „und ohne die Ermutigungen von Carol König (Kulturministerium) und Bürgermeister Dorin Dăneșan, der damals eine Förderung der Stadt Schäßburg in Aussicht gestellt hatte, hätte ich die Organisation des Festivals nicht wieder aufgenommen“, erinnert sich Reiter. Auch die Pandemie war ein schwieriger Einschnitt: „Das halbe Festival habe ich im Bademantel im Homeoffice organisiert“, lacht er. Danach hat er mit seinem Sohn zusammen eine App für die reibungslose Abwicklung der Veranstaltung mit mehreren hundert Teilnehmern entwickelt.

Auch von zahlreichen Medienpartnern – Zeitungen, Radio, TV – wird ProEtnica inzwischen unterstützt. Schmunzelnd erinnert sich Reiter an seinen ersten Termin im Jahr 2001 beim nationalen Sender TVR: „Auf einmal hat der Direktor die Kamera auf mich gerichtet, damals konnte ich noch nicht so gut Rumänisch, und meinte: So, jetzt erzählen Sie mal 15 Minuten lang über Ihre Idee...“

Wissenschaftlicher Dialog hinter der Bühne

Auch wenn die Tänze und Konzerte einen zentralen Attraktionspunkt von ProEtnica bilden – der Abgeordnete der Griechen in Rumänien, Dragoș Zisopol, erzählt stolz, mit 20 Tanzgruppen hier zu sein, die sich übrigens nicht nur aus Mitgliedern der griechischen Minderheit zusammensetzen, sondern auch aus rumänischen Liebhabern griechischer Kultur – wurde bald auch ein Schwerpunkt auf den wissenschaftlichen interkulturellen Dialog gelegt. Bei dessen Aufbau hatte sich vor allem die jüdische Minderheit stark engagiert, erzählt Reiter. 

Seit 2016 bietet ProEtnica zudem interessierten Jugendlichen die Möglichkeit zur Teilnahme an der interkulturellen Sommerakademie, organisiert von Maria Koreck vom Verein Divers. In diesem Jahr reichte die Themenpalette von der Bekämpfung von Vorurteilen über die Beteiligung ethnischer Gemeinschaften am öffentlichen Leben, Fallstudien, soziale Inklusion durch Fußball, politische Vertretung von Frauen aus Minderheiten, Beteiligung der jüdischen und der Roma-Ethnie an der Entwicklung in Rumänien, die Geschichte der Roma als „Kreuzweg-Analogie“ (Delia Grigore), bis hin zum Roma-Holocaust. 

Rumäniens Parlament – Modell für die EU?

Einen Vortrag zum Thema mangelhafte Vertretung von Minderheiten im EU-Parlament, der interessante Fragestellungen anstieß, hielt Prof. Dr. Radu Carp von der Uni Bukarest. Ausgehend von der aktuellen Forderung nach Geschlechtergleichheit und Frauenquoten stellte dieser die Notwendigkeit einer Minderheitenvertretung oder gar  -quote in den Raum. 2019 gab es erstmals einen deutschen Abgeordneten aus der Sinti-und-Roma-Minderheit, Romeo Franz, der diesen Mangel beklagte: Minderheiten müssten auch länderübergreifend in der EU vertreten sein, um Missstände aufzuzeigen, argumentierte dieser – etwa, dass EU-weit 80 Prozent der Roma unter der Armutsgrenze leben - und Schutzmechanismen ins Leben zu rufen. Er fand aber selbst in den eigenen Reihen keine Unterstützung, erst recht keinen Konsens. Generell seien Minderheiten – vor allem Roma – prozentual in der EU nicht angemessen vertreten, verweist Carp. Die rund 6 Millionen Roma in den EU-Ländern hätten derzeit keinen einzigen Abgeordneten im Parlament. Hinzu kommt, dass sich EU-Parlamentarier einer Minderheit häufig davor hüten, diese zu vertreten, sondern bewusst nur die des Landes oder ihrer Partei. Problematisch sei vor diesem Hintergrund auch die aktuelle Zunahme der Rechtsextremisten im EU-Parlament und deren minderheitenfeindliche Rhetorik. 

Sinnvoll auf EU-Ebene wäre daher ein Modell wie in Rumänien mit eigenen Abgeordneten für die Minderheiten, meint Carp. Auch müsste es Finanzmittel für transnationale Zusammenkünfte informeller Gruppen zu Minderheitenthemen geben. 

Ein Paradox sei, dass sich auch die politischen Parteien der Länder nicht mit Minderheitenorganisationen beraten, auch dann nicht, wenn die Anwesenheit von solchen als Wählerpotenzial in einem Wahlkreis bekannt sei. Ebensowenig richte sich die Kampagne bei den EU-Wahlen an Wahlberechtigte aus anderen Ländern.

Ein Mechanismus zum Minderheitenschutz müsse auch die „neuen Minderheiten“, sprich, Migranten, einschließen. Dies aber sei „ferne Zukunftsmusik“, so Carp. Statt dessen setzten viele Staaten immer noch auf Integration. 

Deutsche Präsenz: Andreanum und evangelische Kirche

In der Klosterkirche präsentierten Thomas Șindilariu und Dr. Nicu Teșculea die Wanderausstellung zum „Andreanum“, der Urkunde von König Andreas II. von Ungarn, die 1224 die Rechte und Pflichten der eingewanderten Siebenbürger Sachsen verbriefte: Verwaltungs- und Gerichtsautonomie, Glaubensfreiheit, Rechtsgleichheit und Verbote von Adelsvorrechten; Freiheiten, die Mentalität und Kultur der Siebenbürger Sachsen nachhaltig geprägt haben. Den Text der Ausstellung konnte man als mehrsprachiges Faltblatt – als „Expo to go“ – mitnehmen.

Interessante Diskussionen entspannen sich für die Teilnehmer der Sommerakademie im Pfarrhaus während der Präsentation von Bruno Fröhlich, seit 27 Jahren evangelischer Pfarrer in Schäßburg, über die Entwicklung der hiesigen Gemeinde. Er lieferte den mit der deutschen Minderheit weniger vertrauten Teilnehmern spannende Einblicke in die Bedeutung der Kirche als Begleiter von Geburt bis zum Tod, als Organisator der Gemeinschaft durch Nachbar-, Bruder- und Schwesternschaften, Inklusion für jedermann garantiert. Die Kirche fungierte aber auch als Zentrum für Bildung und Sprache, mit eigenem Schulwesen bis zur Nationalisierung 1948. Rückerstattet wurden dann nur die Gebäude, doch sei die Kirche heute ohnehin nicht mehr in der Lage, das deutsche Schulwesen zu organisieren. Dennoch erfreue sich dieses mit zwei Klassenzügen bis zum Bakkalaureat großer Beliebtheit, auch in Schäßburg, wobei viele Schüler aus rumänisch-ungarischen Familien stammen, Resultat einer familiären Kompromisskultur a la „nici la tine, nici la mine“, so Fröhlich. Aber auch als politische Vertreter der Siebenbürger Sachsen mussten sich mangels anderer Strukturen Kirchenleute engagieren. Die typische Karriere eines Pfarrers begann als Lehrer, dann Schuldirektor, dann Pfarrer mit deutlich besserem Gehalt, selbst auf dem Dorf, mit der Option auf Versetzung in prestigereichere kirchliche Funktionen und Gemeinden, illustriert er am Beispiel von Joseph Haltrich, erst Lehrer, dann Direktor der renommierten Schäßburger Bergschule, später Pfarrer im dörflichen Schaas/Șaeș.

Das Konzert am Samstagabend bestritt der aus Hermannstadt/Sibiu stammende, in München lebende Country-Rocksänger (und Englisch-Professor) Ricky Dandel, der schon zum zweiten Mal bei ProEtnica auftritt. Ricky rockt nicht nur von der Bühne, sondern gibt sich auch sprachlich publikumsnah: den Refrain eines deutschen Textes mit den Fans auf Rumänisch probend tobt er sich mit dem Mikro durch die Menge und regt zum Mitsingen an. Und hat so gar kein Problem mit seinem Alter, verrät er: bald stolze 72 Jahre!

Andere Facetten Rumäniens

Auch die Kunst kommt nicht zu kurz bei ProEtnica: Im Sander-Saal unter dem Stundturm eröffnen Dincer Geafer (DRI) und Ștefan Balog (Inter-Art Foundation Aiud) eine Ausstellung mit den Gemälden der 24 diesjährigen Teilnehmer (darunter auch Rumänen) des jährlich stattfindenden interethnischen Künstlercamps in Aiud, die zum Tag der Diversität auch im Parlament ausgestellt waren. Bilder eines „anderen Rumäniens“, das sonst kaum jemand kennt. Facetten, die es bereichern.

„Minderheiten sind keine Gefahr für die Gesellschaft, sondern eine Ressource“, meint in diesem Sinne auch Volker Reiter. Nationalistische Tendenzen und ethnische Konflikte hingegen bedeuten Ausgrenzung und Lähmung des Fortschrittes. „Es ist ein Irrglaube, wenn wir denken, dass wir nur eine ethnische Identität haben. Die ethnische Herkunft ist ein Ausgangspunkt und kein Ziel“, betont der Begründer von ProEtnica. „Wir bereichern im Laufe des Lebens unsere Seele und wir werden immer mehr zu Weltbürgern, indem wir andere Sprachen lernen und uns andere Kulturen ‘einverleiben’“.