Angekündigt hatte die West-Universität einen weiteren Höhepunkt ihres Kulturhauptstadt-Programms und tatsächlich wurde der Besuch des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk zu einem solchen Highlight. Am vorigen Montag kam Pamuk in Temeswar an: Nach einem Gespräch mit dem rumänischen Autor Radu Paraschivescu in der randvollen Aula Magna der Universität wurde Pamuk am darauffolgenden Tag der Ehrendoktortitel verliehen – es ist der zweite, den er von einer rumänischen Uni bekommt. Dieses Mal haben die Organisatoren aus den kleinen Pannen gelernt, die den Mitte Februar stattgefundenen Besuch des deutschen Gegenwartsphilosophen Peter Sloterdijk begeleitet hatten; auch Pamuk selbst zeigte sich von seiner freundlich-zuvorkommenden, teilweise ironischen, stets aber selbstironischen Seite. Sie ermöglichte ihm, nicht nur die manchmal albernen Fragen Paraschivescus gewitzt umzudeuten, sondern sich selbst und dann auch noch das fragende Publikum zu moderieren, als die Haustechnik wieder einmal zu streiken schien und die Mikrophone ihren Geist aufgegeben hatten.
Das Publikum schaute getrost über solche Peinlichkeiten hinweg und ließ sich auf das fast zweistündige Gespräch des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk mit seinem rumänischen Gastgeber ein. Der türkische Schriftsteller, dem Anfang der 1990er Jahre der internationale Durchbruch gelang, inzwischen in unzählige Sprachen übersetzt und mit den renommiertesten Preisen des westlichen Literaturbetriebs überhäuft, sprach über sein Leben und sein Gesamtwerk, über seine Heimatstadt Istanbul und das für dessen Einwohner kennzeichnende Gefühl des „hüzün“. Dieses nennt man andernorts „Melancholie“, im Falle der Istanbuler Mitbürger Pamuks dürfte „hüzün“, das das osmanische Türkisch dem Arabischen entnommen und an das moderne Türkisch vererbt hat, vor allem mit der Spannung zwischen der nunmehr weit zurückliegenden, glanzvollen osmanischen Vergangenheit und der steten Versuchung der Verwestlichung zusammenhängen. Es ist diese Vergangenheit, die verfallene Fassade einer Stadt, unter der sich die Erinnerung an ein vergangenes Weltreich versteckt, die die Melancholie in Pamuks Werk begründet, weil man, dem Schriftsteller zufolge, in einer Vergangenheit verwurzelt sein kann, ohne sie sich unbedingt herbeizuwünschen und in nostalgischen Träumereien herumzuschwelgen. Da sah Paraschivescu eine Parallele zwischen Pamuk, der in New York an seinem Buch über die Stadt am Bosporus („Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt“, Carl Hanser Verlag, München, 2006; „Istanbul“, Polirom, Jassy/Ia{i, 2011) schrieb, und dem irischen Schriftsteller James Joyce, der in der italienischen Hafenstadt Triest an seine Heimatstadt Dublin dachte und sie literarisch verewigte. Die Parallele ließ Pamuk zwar gelten, gab aber zugleich zu erkennen, dass er ein langsamer Autor sei, der lange Bücher schreibe, Bücher, für die er mehrere Jahre hindurch recherchiere, manchmal Jahrzehnte. Er lese viel, er spräche viel mit Menschen, er suche nach Namen, Fakten, Geschichten und Erzählungen, er müsse sich hineinleben in eine Zeit und eine Gesellschaft, er sei unentwegt auf der Suche nach Erzählstoff. Zum Beispiel habe er die Arbeit an seinem jüngsten Roman, „Die Nächte der Pest“ (Carl Hanser Verlag, München, 2022, die rumänische Übersetzung befindet sich in Arbeit), bereits vor mehr als einem Jahrzehnt begonnen, weil aber das Buch mitten in der Covid-19-Pandemie erschienen sei, glaubten alle, er wollte schnell die Gunst der Stunde nutzen. Das sei falsch, denn auf das Thema der letzten Pestseuche, die Asien und das Osmanische Reich ab 1897 heimgesucht hatte, kam er bereits um das Jahr 2010.
Pamuk wisse, dass man sich als Schriftsteller nicht nur auf seine Inspiration verlassen dürfe, sondern sich in harter Arbeit und mit großer Geduld an sein Thema heranschleichen müsse. Dann werde „der Engel der Erleuchtung“ auch seinen Dienst tun und dieser Engel sei auch sehr geduldig. Entsprechend befinde sich der Autor seit 48 Jahren, als er mit dem Schreiben begonnen habe, in einem selbst auferlegten Lockdown und genieße es vollends.
Als Schriftsteller wisse er, dass es in der Literatur ohne moralische Urteile nicht gehe, aber er versuche, diese peinlichst zu vermeiden. Deshalb wolle er sein Werk auch nicht als politisch verstehen, auch wenn er der Meinung sei, dass ein guter Roman immer dann entstehe, wenn sich Mitgefühl und Anteilnahme mit Imaginations- und Urteilskraft paaren und der Wunsch des Autors erkennbar wird, sich in andere hineinzuversetzen, sie zu verstehen.
Orhan Pamuk, der wegen seiner Äußerungen zum osmanischen Völkermord an den Armeniern sowie zur Menschenrechtslage in der Türkei und gegen das Regime Recep Tayyip Erdogans seit 18 Jahren unter Personenschutz steht, fand unvermissständliche Worte zur Lage in seinem Heimatland: An der vordersten Front des Kampfes für Meinungsfreiheit und für Demokratie in der Türkei stehe nicht er, sondern es stünden die inhaftierten Journalisten und Schriftsteller, jene, die festgenommen, schikaniert und ins Gefängnis geworfen wurden. So zum Beispiel einer, der inzwischen freigelassen wurde, und ihm auf der Istanbuler Istiklal Caddesi begegnet ist. Auf die Frage, wie es ihm denn gegangen sei, antwortete er, im Gefängnis Pamuks Romane gelesen zu haben. Deshalb wünsche sich Pamuk, dass Erdogan die bevorstehenden Wahlen verliert und dass die Türkei den Weg der Demokratie und des Respekts vor Menschenrechten und der Freiheit im Allgemeinen wiederfindet. Auf das Attentat auf den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie, einen Freund von ihm, angesprochen, sagte Pamuk, dass er selbst mehrmals um sein Leben gefürchtet habe, aber er sehe keinen Grund zum Selbstmitleid. Früher standen ihm drei Personenschützer zur Seite, jetzt nur noch einer, die Dinge hätten sich – zumindest, was ihn angehe – verbessert. Die Rückwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee, die auf Betreiben des Erdogan-Regimes 2020 erfolgte und die Pamuk öffentlich kritisierte, könne er nicht nachvollziehen. Sein Land habe dadurch an internationalem Respekt und Prestige verloren, die Türkei sei kein Land des sekulären Islams mehr.
Als Romanautor sehe er sich nicht als einen klassischer Vertreter des Orients, er lebe und schreibe an jenem Ort, wo sich Okzident und Orient berühren würden und wo deshalb auch jene Spannung entstehe, die allen bekannt sei. Auch zum Zeitgeist fand Pamuk die richtigen Worte: Bewegungen wie „Black Lives Matter“ oder „Me Too“ stünden auf der richtigen Seite der Geschichte, aber man könne die Übertreibungen nicht ignorieren. Man würde die politisch und gesellschaftlich korrekten Zielsetzungen solcher Bewegungen missbrauchen, um zum Beispiel die akademische Freiheit einzuschränken. Als Gastprofessor an der New Yorker Columbia University habe er solche Entwicklungen erlebt und warne davor, es mit der politischen Korrektheit zu übertreiben.
Pamuk könne auf ein glückliches Leben zurückblicken, der Wohlstand seiner Familie habe ihm ein Leben als Autor ermöglicht. Er sorgte sich zwar um das Schicksal seiner Bücher, von Daseinssorgen blieb er aber verschont. Für ihn zähle allein die Literatur, die Tatsache, dass er zu Hause von 20.000 Büchern umgeben sei, dass er lesen, schreiben und mit Menschen reden könne, das alles mache ihn sehr glücklich. Genauso wie der Blick aus seinem Fenster: Er sehe den Bosporus, eine Moscheekuppel, Schiffe und Möwenschwärme.