Gerlinde Schuller ist Datenjournalistin und Informationsdesignerin in Amsterdam. Ursprünglich stammt die Siebenbürger Sächsin aus Hetzeldorf/Ațel, von wo sie in den 80er Jahren mit elf Jahren zusammen mit ihrer Familie nach Westdeutschland auswanderte. Nach dem Studium zog sie aus beruflichen Gründen in die Niederlande, wo sie seit 24 Jahren lebt und wirkt. In ihrem jüngsten Projekt „Unser Handwerk ist unser Vermächtnis“ besinnt sie sich zurück auf ihre alte Heimat Rumänien und hat sich zum Ziel gesetzt, anhand von verschiedenen Handwerken die kulturellen Verbindungen zwischen den Niederlanden, Deutschland und Rumänien/Siebenbürgen zu veranschaulichen. Die Ergebnisse ihrer Recherche will sie in losen Abständen auch in der ADZ präsentieren, wie sie Chefredakteurin Nina May in einem Zoom-Gespräch verrät. Später soll daraus eine Wanderausstellung entstehen.
Frau Schuller, womit befassen Sie sich als Datenjournalistin und Informationsdesignerin? Wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen?
Beide Fachgebiete haben gemein, dass sie sich auf die Kommunikation von komplexen Informationen, Sammlungen und Geschichten konzentrieren. Viele meiner Projekte betreffen zudem materielles und immaterielles Kulturerbe. Zum Beispiel habe ich eine umfassende Publikation gemacht über das Stadtarchiv in Amsterdam. Mich hat die Komplexität daran interessiert – es ist immerhin das größte Stadtarchiv der Welt. Ich wollte die Prozessabläufe dieses riesigen Apparates visuell dokumentieren, habe dem Archiv ein Buchkonzept vorgeschlagen und den Auftrag bekommen, es zu realisieren. Da ich auch Informationsdesignerin bin, habe ich die zweisprachige Publikation selbst gestaltet. Ich kombiniere gerne journalistische Langzeitrecherche mit Kuratorenarbeit und eigener Gestaltung.
Wie kommt es, dass nach so vielen Jahren im Ausland nun Rumänien im Fokus Ihres neuen Projektes steht?
Ich bin in Rumänien geboren und habe die ersten Jahre meiner Kindheit in der Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen in Hetzeldorf und Umgebung verbracht. Seit zwei Jahren recherchiere ich zu meinem Langzeitprojekt „Familienerinnerungen und Träume archivieren“, wie das Zusammenleben der Mehrheitsbevölkerung mit den bis zu 18 ethnischen Minderheiten in Rumänien früher funktioniert hat und heute funktioniert. Diese geschichtlichen und territorialen Ereignisse in Rumänien und im Besonderen in Siebenbürgen sind ja einmalig in Europa. Darüber publiziere ich Artikel auf meiner Projektwebseite und in verschiedenen Medien.
Innerhalb dieses Langzeitprojektes erarbeite ich gerade das Ausstellungsprojekt „Unser Handwerk ist unser Vermächtnis“. Ausgehend von den Handwerken der Siebenbürger Sachsen untersuche ich die kulturellen Verbindungen zwischen den Niederlanden, Deutschland und Siebenbürgen.
Die Gemeinschaft, die heute als Siebenbürger Sachsen bezeichnet wird, siedelte sich ab dem 12. Jahrhundert in Wellen in Siebenbürgen an. Diese Siedler wurden aus dem Maastal angeworben, einer Region, die heute zu den Niederlanden, Belgien, Deutschland, Luxemburg und Frankreich gehört. Das Kulturerbe der Siebenbürger Sachsen basiert also auf einem kulturellen Mix. Diese verschiedenen Einflüsse können heute noch in der Kleidertracht, den Bräuchen, dem Häuserbau, in Alltagsgegenständen und der Sprache identifiziert werden. Dazu kommt, dass sich das Kulturerbe der Siebenbürger Sachsen auch durch das Zusammenleben mit anderen ethnischen Gemeinschaften in Siebenbürgen in mehr als 800 Jahren veränderte. Auch der Exodus dieser Gemeinschaft in den 1990er Jahren zurück in den Westen hinterließ seine Spuren an dem materiellen und immateriellen Kulturerbe.
In meinem Projekt konzentriere ich mich auf diesen durch Migration entstandenen historischen Spannungsbogen zwischen den Niederlanden, Deutschland und Rumänien. Anhand von Handwerken, wie zum Beispiel Weben, Sticken, Keramik, Holzverarbeitung, Flecht- und Schmuckhandwerk, aber auch dem Häuserbau, kann ich diese komplexe Geschichte visuell nachvollziehbar erzählen. Dabei will ich auch zeigen, wie die Siebenbürger Sachsen ihre Identität in ihre Handwerke eingebettet haben und dass diese Identität eine Mischung ist, aus jahrhundertealten Traditionen, Migrationserfahrungen und Assimilation.
Haben Sie eine persönliche Beziehung zu diesen Handwerken?
Ich bin in Hetzeldorf aufgewachsen, ein kleines Dorf in der Nähe von Mediasch. Schon als kleines Mädchen fing ich an, mir das Sticken bei meiner Oma abzuschauen. Noch bevor man zur Schule ging, wurde man als Kind auf dem Dorf vertraut gemacht mit Gartenarbeit, Kochen, Weben, Nähen, Sticken, Stricken, Häkeln oder Holzhandwerk. In den 70er und 80er Jahren wurde das in Rumänien auf dem Dorf noch alles praktiziert. In der Schule hatte man dann Handwerken als Unterrichtsfach.
Außerdem hatte ich in der Familie viele Handwerker und Bauern. Mein Vater war Schmied und Schlosser, Onkel von mir waren Tischler, Maler und Maurer. Die Frauen in der Familie haben gekocht, Trachten selbst genäht und gestickt, Handtücher und Tischdecken gewebt. Das Handwerk war eingebettet in den Alltag. Und dass die Handwerker auch Meister des Recyclings und der Nachhaltigkeit waren, war selbstverständlich. Das habe ich als Kind schon vor dem Lesen und Schreiben gelernt.
Worum geht es Ihnen bei der Darstellung des Handwerks?
Neben der Nachhaltigkeit finde ich heute auch die Interdisziplinarität zwischen Handwerk, Kunst und Design interessant. Früher waren Handwerksprodukte Gebrauchsgegenstände und allgegenwärtig – heute sind es meist exklusive, oft dekorative Objekte, die entsprechend teuer sind. Ich kenne auch Handwerker, die sich eher als Künstler definieren, weil sie ihre Produkte in limitierter Auflage herstellen und in Ausstellungen präsentieren. Auf der anderen Seite gibt es viele Künstler und Designer, die die traditionellen Handwerke als Inspirationsquelle nehmen und sie zum Thema ihrer Kunst machen. Und dann gibt es noch den Aspekt der „letzten“ Handwerker, die keine Nachfolger haben und deswegen ist dieses Handwerk vom Aussterben bedroht.
Könnte dieses neue Kunstverständnis eine Rettung für das traditionelle Handwerk in Rumänien sein, damit es im Konkurrenzkampf mit modernen Billigprodukten nicht verloren geht?
Es kann helfen, bestimmte Handwerke vor dem Aussterben zu retten und damit originelle Werke zu entwickeln. Dass aber ganze Dörfer und Regionen, wie noch vor 100 Jahren von einem bestimmten Handwerk leben, ist nicht mehr möglich. Auch weil das Wissen nicht mehr selbstverständlich innerhalb der Familie von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Das Wichtigste, was ich jetzt schon aufgrund meiner Recherchen verstanden habe, ist, dass man die junge Generation für Handwerke begeistern muss. Man sollte ihnen vermitteln, dass Handwerke ein Teil ihres Kulturerbes und damit ihrer Identität darstellen. Es geht also auch um das Vermitteln von Geschichte. Es hilft, den historischen Kontext zu kennen, um ein Handwerk weiterzuentwickeln. Es gibt schon soviel Wissen um Techniken und Materialien, man muss nicht alles neu erfinden. Es hilft auch, mit anderen Handwerkern interdisziplinär zu kooperieren, um zusammen etwas Neues anzustoßen. Wichtig erscheint mir aber auch, eine kulturelle Offenheit zu praktizieren. Solange jemand sich der historischen Wurzeln von überlieferten Handwerkstechniken und traditioneller Gestaltung bewusst ist und damit arbeitet, muss er das Handwerk auch weiterentwickeln dürfen. Ich freue mich, wenn ich sehe, dass traditionelle Handwerke der Siebenbürger Sachsen inzwischen auch von anderen ethnischen Gemeinschaften ausgeübt und weiterentwickelt werden.
Gibt es Beispiele für solche Weiterentwicklungen traditionellen Handwerks?
Während meiner dreiwöchigen Recherchereise in Siebenbürgen habe ich das Keramikzentrum „Ceramica de Nocrich“ in Leschkirch besucht. Dort im Harbachtal praktizierten die Siebenbürger Sachsen eine Form der Töpferei, die 100 Jahre lang verloren war. Der rumänische Pfadfinderverein hat hier eine Keramikwerkstatt aufgebaut mit finanzieller Hilfe von Hans-Christian Habermann, einem Siebenbürger Sachsen, der schon 1948 Rumänien verließ. Die Pfadfinder, die von internationalen, ehrenamtlichen Helfern unterstützt werden, haben die traditionellen Produktion und Muster von früher studiert und verwenden sie wieder in ihren Keramiken.
Sie entwickeln aber auch eigene Produkte und Motive und geben Workshops an die Kinder im Dorf. Auf diese Art und Weise lernen die rumänischen und Roma-Kinder die Geschichte ihres Dorfes und siebenbürgisch-sächsische Traditionen kennen, können darauf aufbauend aber auch etwas Eigenes entwickeln.
Ein anderes Beispiel ist die moldauische Korbflechterin, Mariana Buruian², die ich interviewt habe. Sie hatte in ihrer Familie eine Korbflechtertradition, von der sie gar nichts wusste, bis sie selbst anfing, das Handwerk auszuüben. In ihrer Familie wurde früher mit Weidenruten geflochten, sie dagegen arbeitet mit einem speziellen Papier. Das Flechten mit Papier ist ein neuer Trend, bei dem man aber mit traditionellen Flechttechniken und -mustern arbeiten kann.
Wie recherchieren Sie für so ein Riesen-Projekt?
Ich bin Datenjournalistin, das bedeutet, dass man erst mal eine Datensammlung anlegt, um sich komplexen Themen aus verschiedenen Perspektiven anzunähern. Damit habe ich vor fünf Jahren angefangen. Ich habe die Geschichte der Siebenbürger Sachsen recherchiert, war eine Woche lang im Siebenbürgen-Institut in Gundelsheim in Deutschland, die ein Archiv mit Bibliothek haben. Ich habe Statistiken zu den Minderheiten in Rumänien und Europa bei Behörden angefordert und eine eigene Bildersammlung aus Archiven in der ganzen Welt angelegt. Für das Ausstellungsprojekt habe ich im Frühjahr erste Gespräche mit Handwerkern in den Niederlanden, Rumänien, der Republik Moldau, Deutschland und Belgien geführt. Ich habe mit Kuratoren und Konservatoren gesprochen und in Museumssammlungen recherchiert.
Im August habe ich dann eine dreiwöchige Reise durch Siebenbürgen unternommen und verschiedene Leute interviewt, unter anderem den Kachelmaler Michael Henning, die Designer und Kuratoren Marlene und Alex Herberth (KraftMade), den Restaurator [tefan Vaida, den Kunsthistoriker Jan de Maere, die Künstlerin Lilian Theil und den Kupferschmied Emil Calderar.
„Unser Handwerk ist unser Vermächtnis“ ist ein komplexes Projekt. Es geht um eine Zeitspanne von über 800 Jahren, um Migrationsbewegungen quer durch Europa und um ein Netzwerk, das ich gerne über drei Länder spinnen möchte – die Niederlande, Rumänien und Deutschland. Aber gerade diese Komplexität macht es für mich besonders interessant.
Wie kann man sich das Endprodukt eines solchen Projektes vorstellen?
Für das Projekt „Unser Handwerk ist unser Vermächtnis“ wäre das Endresultat eine Wanderausstellung, die in drei Ländern und vier Sprachen gezeigt werden soll. Ich habe mittler-weile Museen für eine mögliche Zusammenarbeit kontaktiert.
Ich publiziere aber auch schon meine Recherche in den Medien, im Internet und auf sozialen Medien. Inhaltlich interessieren mich besonders die kulturellen Einflüsse zwischen den Niederlanden, Deutschland und Siebenbürgen.
Ich bin aber noch mitten in meiner Recherche und auf Tipps angewiesen. Es wäre schön, wenn mir Ihre Leser Informationen zukommen lassen, falls sie zum Beispiel einen „letzten“ Handwerker kennen, der ein sächsisches Handwerk ausübt oder Künstler oder Designer die ein sächsisches Handwerk als Inspirationsquelle aufgreifen.
Was soll die Ausstellung letztendlich bewirken?
Das Projekt soll in einer leicht verständlichen, visuellen Sprache möglichst viele Menschen ansprechen. Mir ist es wichtig, die Geschichte der Siebenbürger Sachsen zu erzählen – es ist eine multikulturelle, europäische Migrationsgeschichte, die so viele Aspekte in sich trägt, von denen man heute etwas lernen kann. Man kann sie auch als Diskussionsgrundlage nehmen für heutige geplante und ungeplante Migrationsbewegungen nach und innerhalb von Europa. Des Weiteren werden viele aktuelle Themen angesprochen: Wie gehen wir mit dem Kulturerbe von ethnischen Minderheiten um? Wie kann man eine junge Generation für kulturelles Erbe, Geschichte und ganz praktisch, für Handwerke begeistern? Wie können langlebige Produkte hergestellt und Handwerke wiederbelebt werden?
Ich glaube auch, dass sich das Netzwerk zwischen den Kulturschaffenden, Künstlern und Designern aus den verschiedenen Ländern gegenseitig speisen kann. In den Niederlanden wird viel mit neuen Materialien und Technologien wie 3D-Druck, Künstliche Intelligenz, experimentiert. Dagegen sind in Rumänien die Naturverbundenheit und das Wissen über unser Ökosystem viel größer. Ich fände es großartig, wenn sich diese unterschiedlichen Leute aus verschiedenen Disziplinen durch das Ausstellungsprojekt treffen, austauschen, gegenseitig inspirieren und voneinander lernen.
Gibt es ein rumänisches Projekt, das für das Ausland Vorbildcharakter haben könnte?
Da wäre die Initiative „Ambulanz der Monumente“ von Eugen und [tefan Vaida, Architekt und Restaurator, aus Alzen. Mithilfe von freiwilligen Helfern und Restauratoren führen sie Notreparaturen an historischen Denkmälern durch. Viele davon sind siebenbürgisch sächsische Bauten oder Kirchenburgen. Ich habe mit [tefanVaida in Siebenbürgen über ihre aktuellen Projekte gesprochen. Er hat mir auch seine umfangreiche Sammlung von historischen Gegenständen gezeigt.
Dazu gehören unter anderem Hunderte von unterschiedlichen alten Dachziegeln. Er sammelt sie, um Modelle zu haben, falls sie für Denkmäler nachproduziert werden müssen.
Ich finde, dass die „Ambulanz der Monumente“ ein zukunftsweisendes Projekt ist, auch weil es auf Eigen-initiative setzt. Diese Herangehensweise könnte auch in anderen Ländern übernommen werden, in denen Baudenkmäler verfallen, weil man mit deren Erhalt nicht nachkommt.
Glauben Sie, dass in Rumänien ein Bewusstsein für den Wert der hiesigen Handwerkstradition vorhanden ist?
Viele Kulturschaffende, besonders die junge Generation, haben sehr positiv auf meine Projektinitiative reagiert. Aber auch viele Siebenbürger Sachsen haben mich schon kontaktiert und mir Tipps und Material geschickt.
Ich habe das Gefühl, dass in Rumänien ein Umdenken im Gange ist. Für die jungen Leute gehört auch das reiche Kulturerbe der ethnischen Minderheiten zum kulturellen Erbe von Rumänien. Ein Kulturwandel ist meiner Meinung nach auch die einzige Möglichkeit, die vielen Kulturgüter der Siebenbürger Sachsen dort zu bewahren.
Rumänische Jugendliche, die abends in einem Dorf vor der siebenbürgisch sächsischen Kirchenburg saßen, erzählten mir, dass sie noch nie auf der anderen Seite der Mauer waren. Vielleicht sollte man „Tage der offenen Tür“ veranstalten, um ihnen die Kirchenburg zu zeigen und ihnen die Geschichte dahinter – die auch die Geschichte ihres Dorfes ist – nahezubringen.
Ich bin sicher, dass die meisten die Einladung annehmen würden. Um etwas zu bewahren, muss man sich irgendwie damit identifizieren.
Vielen Dank für das interessante Gespräch!
Lesen Sie auf der nächsten Kulturseite der ADZ von Gerlinde Schuller: „Korbflechten - Eine kulturelle Technik“