Noch bevor man das Nationale Kunstmuseum in Bukarest betritt, wird man bereits draußen vor dem Gebäude des ehemaligen Königspalastes durch großflächige Informationstafeln am metallenen Gitterzaun auf das rumänisch-französische Kulturprojekt „Sezonul România-Franța 2019“ aufmerksam gemacht, das derzeit, parallel zur rumänischen EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres, die kulturellen bilateralen Beziehungen zwischen Rumänien und Frankreich darstellen, beleben und intensivieren möchte. Auf jenen Informationstafeln finden sich zahlreiche Kurzporträts von Rumäninnen und Rumänen, die ihr Heimatland verlassen haben, um in Frankreich und nicht nur dort zu wirken, etwa die Schauspielerin Elvira Popescu oder der Dirigent Sergiu Celibidache, wie auch viele Porträts von Franzosen, die in Rumänien gelebt und gearbeitet haben, etwa der Architekt Paul Gottereau, der Ende des 19. Jahrhunderts in Bukarest u. a. das Gebäude der Zentralen Universitätsbibliothek errichtete, oder der Philosoph und Schriftsteller Roland Barthes, der in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg am Bukarester Institut Français sowie an der Universität Bukarest tätig war.
Die Sonderausstellung, die man derzeit und noch bis Mitte Juli im Bukarester Nationalen Kunstmuseum besichtigen kann, ist ebenfalls Teil dieses rumänisch-französischen Kulturprojekts und versammelt Werke zeitgenössischer Kunst aus der Sammlung der Pariser Bank Société Générale. Die Ausstellung, die Exponate von insgesamt zwei Dutzend internationalen Künstlerinnen und Künstlern zeigt, trägt einen Titel, der auf den Essay „Espčces d’espaces“ des französischen Schriftstellers und Filmemachers Georges Perec aus dem Jahre 1974 zurückgeht, und der vom rumänischen Kurator der Ausstellung, Mihnea Mircan, mit „Specii de spații“ ins Rumänische übersetzt wurde. Das aufgrund der gemeinsamen lateinischen Wurzeln im Französischen wie im Rumänischen mögliche Wortspiel im Titel lässt sich im Deutschen zwar nicht wiederholen, aber wenigstens durch die Übertragung „Träume von Räumen“ annähernd wiedergeben.
Das Konzept der Räume lässt sich bereits am von Ideo-gram Studios entworfenen Design der Ausstellung ablesen. Denn in den beiden Ausstellungssälen im Erdgeschoss des Kunstmuseums sind große, Winkel und Ecken repräsentierende, Raumteiler aufgestellt, die Räume erzeugen und eröffnen, verändern und verwandeln, abgrenzen und abschließen. Besonders eindrücklich ist das bei der Präsentation von vier Gemälden der belgischen Künstlerin Farah Atassi, die an den Wänden solcher Raumteiler hängen. Die Gemälde haben selbst unfertige, im Entstehen wie im Zerfall begriffene Räume zum Thema, was an den beiden Gemäldetiteln „Transitional Home 1“ oder „Abandoned Store“ deutlich zum Ausdruck kommt.
Das Raumdesign der Ausstellung geht allerdings zu Lasten der Übersichtlichkeit, denn die Zuordnung der Exponate zu den Informationszetteln, die man sich durch Abreißen sogar aneignen darf, fällt dem Besucher nicht immer leicht, zumal auf den einzelnen Informationszetteln oft auch mehrere Werke desselben Künstlers verzeichnet sind. Die erläuternden Texte, die aus der Feder des Kurators Mihnea Mircan stammen, bringen wertvolle Informationen zu Künstler und Werk, aber auch abstrakte Reflexionen zu Form und Raum, die nicht immer auf Anhieb verständlich sind.
Fünf Künstlern wird in dieser Ausstellung beson-ders und damit mehr Raum gewährt. Neben der bereits erwähnten Farah Atassi sind dies die aus Sarajewo stammende Bosnierin Danica Dakic sowie, aus Frankreich stammend, Julien Prévieux und das Brüderpaar Florian und Michael Quistrebert. Die Werke von Danika Dakic sind der politisch engagierten Gegenwartskunst zuzurechnen. Die Künstlerin platziert junge Migranten in tristen Stadt- und Naturräumen vor große Bildkulissen mit gemalten farbigen exotischen Landschaften. Titel wie „El Dorado“ verdeutlichen dabei den Kontrast zwischen Kunst und Wirklichkeit. Auch Anspielungen auf die Kunstgeschichte halten in die fotografischen Arbeiten von Danika Dakic Einzug: eine Romafamilie erscheint vor der Monumentalkulisse eines Gemäldes von Hubert Robert aus dem Jahre 1796, das die Große Galerie des Louvre als Ruine zeigt, und Roma stellen – im Stil eines lebenden Bildes – das Gemälde „Der Falschspieler mit dem Karo-Ass“ von Georges de la Tour aus dem Jahre 1620 nach. Eine Video-Installation der Künstlerin zeigt die endlose Teezeremonie einer Gruppe junger Flüchtlinge an Bord eines Schiffes, durch dessen Bullaugen man auf ein nebligtrübes Niemandsland hinausblickt.
Julien Prévieux ist mit einem großen Spektrum von Werken in der Bukarester Ausstellung vertreten. Am Eingang zur Werkschau der Société Générale trifft man auf die überdimensionale Skulptur „Taschendieb 2/3“, die aus vier kreiselförmigen übereinander montierten Elementen aus poliertem Aluminium besteht, wobei sich die Kreiselelemente an ihren Achsenpunkten berühren und in ihrer Gesamtkomposition einen fragilen und instabilen Eindruck hinterlassen. Ein Video mit dem Titel „Crash Test“ zeigt, wie sich ein junger Mann auf Gegenstände aller Art (auch Menschen) wirft, die der Wucht seines Körpers nachgeben (wie ein Stuhl oder eine Gitarre, die dabei zu Bruch gehen) oder auch nicht (wie eine Mauer oder eine Tischtennisplatte). Amüsant ist eine Reihe französischer (und minutiös auch ins Rumänische übertragener) Briefwechsel des Künstlers mit Firmen, die Arbeitskräfte suchen, in denen der Künstler, teils aggressiv, teils komödiantisch, den diversen Personalchefs mitteilt, warum er sich auf die jeweils ausgeschriebenen Stellen nicht bewirbt. Die Bilder der Gebrüder Quistrebert kann man im weitesten Sinne als abstrakte Porträts verstehen, die mittels Acrylfarben und Autolack auf Holz unter Verwendung von Modellier- und Polierpaste, teilweise auch von kleinen Glühlämpchen mit Schaltern, ihre künstlerische Wirkung erzielen.
Interessant ist eine Weltkarte des brasilianischen Künstlers Vik Muniz, die ganz aus auf Pappkarton aufgezogenen Bildern von Computerplastikabfällen (Gehäusen, Tastaturen, Mäusen, Dosen, Steckern) zusammengesetzt ist. Vergleichbar damit sind die Collagen und Assemblagen der niederländischen Künstlerin Marjan Teeuwen, die Agglomerationen von nach verschiedenen Gesichtspunkten zusammengeordneten Objekten als ästhetische Strukturen präsentiert, wie die Titel „Archief 2“ und „Archief 3“ bereits andeuten. Von dem aus Kenia gebürtigen Otobong Nkanga stammen drei Aluminiumdrucke, auf denen eine ganz in Dunkel gehüllte Person zu sehen ist, die an einem Miniaturmodell arbeitet, bei dem Fels- und Landschaftsformationen bereits vorhanden sind und wo der Schöpfer des Werks jetzt gerade Bäume aufstellt.
Vom deutschen Bildhauer Imi Knoebel, der von Kasimir Malewitsch und Joseph Beuys beeinflusst ist, hängt in der Ausstellung ein Gemälde (Acryl auf Aluminium bzw. Plastik) mit dem Titel „Ich nicht“, das in der Komposition dreier monochromer (dunkelblauer, gelber und roter) Farbflächen fast der rumänischen Flagge ähnelt. Der katalanische Fotograf Aleix Plademunt platziert in seinem Werk „Espectadores 3“ leere Stuhlreihen für ein imaginäres Publikum in freier Landschaft mitten in einen Acker mit hervorragender Sicht auf ein in der Ferne vor sich hin dampfendes Kraftwerk.
Wer diese Bukarester Ausstellung besucht, kann noch zahlreiche weitere künstlerische Entdeckungen machen und sich an der Originalität, am Humor, aber auch an der kritischen Dimension der hier präsentierten Werke erfreuen. Wer seinen Genuss bei der Betrachtung von Gegenwartskunst andernorts fortsetzen möchte, kann sich in die „Residența BRD Scena9“ in der Bukarester Straße I. L. Caragiale Nr. 32 begeben, wo, ebenfalls im Rahmen des besagten rumänisch-französischen Kulturprojekts, allerdings nur bis Mitte Juni, die Ausstellung „Spațiu (Continuare și sfârșit)“ – Raum (Fortsetzung und Ende) – zu besichtigen ist.