Die Kunst ist ein feinfühliger Barometer der Zeit, in der sie geschaffen wurde. Es ist Ausdruck von Strömungen in der Gesellschaft, mag Stimmungen einfangen oder erahnen. Die Ästhetik ist ebenfalls ihrer Zeit verpflichtet, gefangen in Moden oder geprägt von Ideologien. Das Theater vermag es, als Synthese der Kunstformen, in besonderer Weise die Ästhetik seiner Zeit einzufangen.
Das Nationale Theaterfestival, das in diesem Jahr vom 19. bis 29. Oktober stattfindet, mit dessen Auswahl der landesweit besten Stücke der vergangenen Spielzeit, bietet einen stets spannenden Einblick in den Zustand unserer Welt. Die Einladung einiger ausgewählter Produktionen aus dem Ausland stellt dann das Autoch-thone dem Internationalen gegenüber und schafft so eine willkommene Kontextualisierung. In den 11 Tagen des Festivals wird Bukarest zum Treffpunkt der Theaterschaffenden aus dem ganzen Land und darüber hinaus: Schauspieler, Regisseure, Intendanten, Kritiker finden sich in Bukarest ein, nehmen an Vorstellungen, Buchpräsentation und Würdigungen bedeutender Persönlichkeiten der rumänischen Theaterszene (in diesem Jahr steht die Regisseurin Cătălina Buzoianu im Mittelpunkt) teil. Zudem bietet das Festival die einzigartige Möglichkeit zu sehen, was die regionalen Bühnen zu bieten haben – oft Bemerkenswertes und Innovatives. Vielleicht kann dies auch dazu beitragen, den internen Kulturtourismus zu entwickeln, was auch ein Schub für die regionalen Bühnen darstellen könnte und deren Aufwertung fördern würde.
Eröffnet wurde das Festival mit einer Produktion der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin aus der Spielzeit 2010/2011, „Fräulein Julie“, nach August Strindberg. Mit einer innovativen Ästhetik und einem sehr überraschenden Ausschnitt dieses Klassikers schafft das britische Regie-Duo Katie Mitchell und Leo Warner (Video) die faszinierende Welt eines kinematografischen Making of, ein sensorielles Seelenpanorama aus der Perspektive einer einzigen Gestalt: Kristin. Dabei sind die eigentlichen Protagonisten des Stücks, Julie und Jean, Randgestalten, deren Tun sich als Echo auf das (Gefühls)Leben Kristins auswirkt. In dieser Produktion spielt die Stille eine zentrale Rolle, und das, obwohl Geräusche von Schritten, Öffnen und Schließen von Schubladen, Schneiden von Lebensmitteln, Füllen bzw. Entleeren von Gefäßen und das Ticken der Uhr als stetiger Begleiter einer Memento-Mori-Ästhetik allgegenwärtig sind. Die Geräusche werden live produziert, als Soundtrack eines entstehenden Films, der über der Bühne projiziert wird und teils vorgedreht, teils live während der Aufführung in den Film in Form von Close-ups oder Szenenfragmenten hineingeschnitten wird. Für den Zuschauer eröffnet sich damit ein Panorama an Eindrücken unterschiedlichster Provenienz, welche die Grenzen des rein Theatralischen sprengt und eine erhöhte Wachsamkeit erfordert, um die verschiedenen Ebenen des Geschehens erfassen zu können. Ein faszinierendes Experiment, das den Zuschauer im Bann hält, ohne dabei aufdringlich oder exzessiv zu werden. Vielmehr macht sich Staunen breit über diese lyrische, zurückhaltende Sotto-voce-Ästhetik, welche die kleinen Gesten Kristins zelebriert und sie in Kontrast zur Leidenschaftlichkeit der ab und zu in diese Welt eindringenden Hauptgestalten Julie und Jean stellt. Jule Böwe als Kristin zeigt eine sagenhafte Körperbeherrschung und Einfühlsamkeit, sie erschafft auf eindringliche Weise die sehr begrenzte Welt der Kristin, deren innere Leere – die eine Spiegelung der äußeren ist – sowie das unaufhaltsam Repetitive ihres Lebens. Eine würdige Eröffnung des Festivals, ein bleibender Eindruck für die im Großen Saal des Nationaltheaters in Bukarest versammelte Elite der rumänischen Theaterwelt.
Mit Spannung erwartet wurde in Bukarest Gabriel García Márquez’ „Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter“, eine Produktion des Deutschen Staatstheaters Temeswar, die im vergangenen Jahr gleich zwei der angesehensten Preise des Rumänischen Theaterverbandes UNITER gewann: den Preis für die beste Regie (für Regisseur Yuri Kordonsky) und für die beste Bühnenausstattung (für Helmut Stürmer/Bühne und Ioana Popescu/Kostüme und Live-Zeichnungen in Sand). Ein wahrer Kraftakt des Ensembles um zwei starke Schauspielerinnen (Olga Török als Eréndira und Ida Jarcsek-Gaza als Großmutter) in einer Produktion, in deren Mittelpunkt drei Erzählungen von Gabriel García Márquez stehen, allen voran „Eréndira“, die Geschichte einer jungen Frau, die von ihrer Großmutter als Sklavin gehalten wird und, als sie versehent-lich das Haus in Brand setzt, von dieser gezwungen wird, ihre dadurch verursachten „Schulden“ zu bezahlen, indem sie sich prostituiert. Zwar eilt ein vermeintlicher Retter, der ausgerechnet Ulysses heißt, herbei, doch den tragischen Ausgang dieser traurigsten aller Geschichten vermag auch er nicht zu verhindern. Márquez’ Parabel wird in einer Theatersprache der expressionistischen Art umgesetzt. Die Ausweglosigkeit des Individuums, die Brutalität der Ausbeutung erzeugt eine beklemmende Atmosphäre und zeichnet ein düsteres Bild der Welt. Einzig das verspielt-fantasievolle Bühnenbild Helmut Stürmers, ein Markenzeichen dieses höchst originellen Künstlers unter den Bühnenbildnern, setzt einen ironisch-burlesken Kontrapunkt in diesem Universum südamerikanischer Tristesse.
Ganz anders eine der besten Produktionen im rumänischen Theater der letzten Jahre, Eugène Ionescos „Der König stirbt“ am Nationaltheater Bukarest, in der Regie von Andrei und Andreea Grosu. Mit zwei Legenden unter den rumänischen Schauspielern, Victor Rebengiuc und Mariana Mihu], in den Hauptrollen, beide für diese Rollen als bester Schauspieler bzw. beste Schauspielerin vom rumänischen Theaterverband 2018 ausgezeichnet, glänzt diese Produktion durch die leisen Töne, durch die Zelebrierung des Textes, der in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Ironie ausgelebt wird. Eine Meditation über den unausweichlichen Tod, dem der Mensch stets von der Schippe springen möchte, den er nicht akzeptiert, dem er ausweichen will. Der wunderbare Große Saal des Nationaltheaters wird zu einem Wohnzimmer mit 1000 Zuschauern, die ihren Atem anhalten und an jedem Wort, an jeder Geste der großartigen Besetzung hängen. Wahrlich großes Theater.
Das Metropolis-Theater Bukarest zeigte derweil einen Klassiker der Weltliteratur, Shakespeares „Hamlet“ in der Regie von Victor Ioan Frunz˛ und mit der Ausstattung von Adriana Grand als „Kammerspiel“. Mit wenig Mitteln, im auf 100 Personen begrenzen Saal im eigenen Haus wird das Stück zu einem intimen Erlebnis, das sich nah am Publikum abspielt. Um auch zeitliche Nähe herzustellen, wurde die Handlung ins Dänemark der 1960er Jahre versetzt, samt schwarz-weiß Fernseher im Wohnzimmer und Nachrichtensendung über den Tod des Königs. Da der Text und die Handlungsstränge nicht verändert oder aktualisiert wurden, erscheinen manche Szenen (bei-spielsweise die Duell-Szene am Ende des Stückes) etwas aus der Zeit gefallen. Schauspielerisch überzeugen durchweg gute Leistungen (allen voran Andrei Huțuleac, einer der begabtesten Schauspieler der jungen Generation, als Hamlet), wobei eine gewisse Verspielt-heit in der Herangehensweise die inneren Konflikte der Charaktere überschatten kann. Die Beliebtheit dieses Meisterwerks bis heute fußt auf dessen Relevanz für den Zuschauer. Die Vielzahl an denkwürdigen Szenen und Dialogen haben ihre Aktualität und Faszination nicht eingebüßt. Obzwar das Theater auch der Unterhaltung dient, ist es ebenso bedeutsam, dass es Anregungen zum Weiterdenken bietet.
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