Von dem Hermannstädter Schriftsteller und Literaturhistoriker Joachim Wittstock ist jüngst im hora Verlag eine Erzählung ediert worden, die bereits im Jahre 1978 im Dacia Verlag in Klausenburg/Cluj-Napoca erschienen war. Allerdings konnte der Text damals nicht in vollem Umfang publiziert werden, weil die Zensur Streichungen vorgenommen hatte, die in der Neuauflage aus dem Jahre 2011 nicht nur rückgängig, sondern auch kenntlich gemacht worden sind, sodass die heutige Lektüre unmittelbar eine historisch-politische Perspektive auf das in der Erzählung geschilderte Geschehen eröffnet.
Im Mittelpunkt des 120 Seiten starken Textes steht der Urzeln-Umzug, ein Brauchtumsfest aus Agnetheln/Agnita im Harbachtal/Valea Hârtibaciului, das als Mummenschanz der Zünfte bis ins 17. Jahrhundert zurückgeht und, mit verschiedenen Unterbrechungen in Geschichte und Gegenwart (z. B. von 1941 bis 1969 oder von 1989 bis 2006), bis auf den heutigen Tag gefeiert wird (vgl. etwa http://www.adz.ro/lokales/artikel-lokales/artikel/die-jagd-auf-den-boesen-winter/). Der Brauch des Urzeln-Laufs war derart wirkungsmächtig, dass er nach der Auswanderung von Siebenbürger Sachsen aus Agnetheln auch in Deutschland Fuß fassen konnte und seit 1994 in Sachsenheim bei Ludwigsburg jährlich bei den Fastnachtsumzügen der Schwäbisch-Alemannischen Narrenzünfte parademäßig aufgeführt wird.
Das traditionelle Fest des Urzeln-Umzugs speist sich dabei aus einer Vielzahl von Quellen: Der heidnische Brauch der Winteraustreibung ist in ihm ebenso präsent wie die historische Selbstvergewisserung der Zünfte, die Fastnachtstradition des Maskentragens ebenso wie Erinnerungen an diverse Schutzzauber vor der mittelalterlichen Pest, dem „schwarzen Tod“. Typische Brauchtumsfiguren des Urzeln-Laufs, die auch in Wittstocks Erzählung auftreten, sind: der Bär und der Bärentreiber der Kürschnerzunft, das Mummerl und das Rösschen der Schneiderzunft, der Hauptmann der Schusterzunft und der Reifenschwinger der Agnethler Fassbinderzunft. Der Reifenschwinger ist zugleich die zentrale Symbolgestalt, in der sich die verschiedenen Erzähldimensionen des Wittstockschen Textes treffen und zugleich brechen.
„Karussellpolka“ ist ein überaus schwieriger und voraussetzungsvoller Text, zumal er mehrere Erzählebenen miteinander verbindet, parallelisiert und nicht selten engführt, wobei die gesamte Erzählung von einem Geflecht von Anspielungen durchzogen ist, sodass es gleichsam eines gelehrten Auges bedarf, um den Text nicht nur verstehen, sondern auch genießen zu können.
Aus diesem Grunde ist die Neuedition der Wittstockschen Erzählung durch den hora Verlag besonders zu loben, weil sie nicht nur den aufgrund des ursprünglichen Manuskripts vervollständigten Text der „Karussellpolka“ bietet, sondern auch, in Gestalt zweier Vor- und zweier Nachworte, Verständnis- und Lektürehilfen zur Verfügung stellt, die den Leser in Struktur und Thematik des Werkes einführen.
Altbischof D. Dr. Christoph Klein wertet die Wittstocksche Erzählung als „Bilanz der gegenwärtigen Probleme im Wissen um die Vergangenheit und im Blick auf die Zukunft“, wobei er den in der Erzählung geschilderten Abwehrzauber des Urzeln-Laufs nicht nur auf Naturkatastrophen, Seuchen, Krieg und Teuerung bezogen sieht, sondern auch auf den repressiven kommunistischen Staatsapparat, die „rote Ruhr“. Die Bedrohung der Lebensexistenz der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft wird so zum geheimen Zentrum der Erzählung, die den Leser mit dem unverfänglichen Titel „Karussellpolka“ nur vordergründig zu beschwichtigen sucht.
Der Autor selbst weist in seiner „Urzeln immerfort“ betitelten Vorbemerkung zu seinem Buch auf den Gemeinschaft stiftenden Charakter des Urzeln-Brauchs hin: „Brauchtum ist, denke ich ans Urzelfest, zunächst einmal selbsterlebte Vergangenheit. Und ist fast nur das: Selbsterlebtes, erlebt Gehabtes, erlebt Gewesenes.“
Die beiden Nachworte von Horst Fabritius und Helga Lutsch, wobei zusätzlich noch eine Rezension von Walter Fromm aus dem Jahre 1979 im Anhang abgedruckt ist, beleuchten die drei Zeitebenen, die in Wittstocks „Karussellpolka“ amalgamiert sind: das 17. Jahrhundert, verkörpert durch Gestalten wie Martin Opitz, der 1621 in Weißenburg/Alba Iulia zu Gast war, oder auch durch den Hermannstädter Pfarrer Johannes Oltardus; die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit ihren Schauprozessen gegen siebenbürgisch-sächsische Studenten, Pfarrer und Schriftsteller; und die siebziger Jahre mit ihrer politischen Repression, mit der Bedrohung und der Ausdünnung der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft in Rumänien. Besonders verdienstvoll sind die von Horst Fabritius zusammengetragenen literaturwissenschaftlichen und literaturkritischen Kommentare zu „Karussellpolka“, die jeweils immer wieder neue Facetten der Wittstockschen Erzählung hervorkehren.
Der harmlos scheinende Inhalt – der Ausflug einer Touristengruppe zum Fastnachtstreiben des Urzeln-Laufs in Agnetheln – wird bereits zu Beginn der Erzählung doppelbödig, ja abgründig, als der Reiseleiter beiläufig als Fahrtziel nicht Agnetheln, sondern Hirselden/Pripor de mei angibt, einen fiktiven Ort, den es in Wirklichkeit nicht gibt und der deshalb die ideale Kulisse für die Erzählhandlung darstellt. Im Spiel der Masken offenbart sich die Maskenhaftigkeit der Erzählung, die sich – wie im antiken Theater – nie direkt, sondern immer nur durch die „persona“, das „prosopon“, die Maske des tönenden Subjekts ausspricht. Die Handlung in Wittstocks „Karussellpolka“ ist ganz in das Innenleben des Erzählers zurückgenommen, dessen Subjektivität sich allein in der scheinbaren Objektivität des von ihm Geschilderten artikuliert.
Ein einziges Beispiel möge hierfür genügen. Ganz zu Beginn der Erzählung, noch im Reisebus, kommt der Erzähler auf Kaffee zu sprechen: „Frei fühlt man sich, wenn man Kaffee getrunken hat. (…) Kaffee oder die Freiheit des Gemüts, wenn man einen Titel von Opitz so abwandeln darf. (…) Kaffee ist eher ein Anregungsmittel. Man wird zur Freiheit des Gemüts angeregt. Auch Opitz hat dies erfahren. Er hat in Siebenbürgen Kaffee trinken gelernt. Denn in Deutschland ist der Kaffee später als in Siebenbürgen bekannt geworden.“ Das scheinbar unverfängliche Geplauder des Erzählers wirft in Wahrheit ein bezeichnendes Licht auf das Rumänien der damaligen Zeit, in dem nicht nur der Genuss des Kaffees, sondern auch derjenige der Freiheit zu einem kaum mehr erreichbaren Luxus geworden war. Tragisch der Umstand, dass Kaffee, Freiheit und Ruhe des Gemüts inzwischen gen Westen abgewandert sind, und doch zugleich tröstend das im Text anspielungsweise präsente Zitat von Opitz, dessen Poem „Zlatna oder Gedicht von Ruhe des Gemüts“ folgendermaßen ausklingt: „Mein werter lieber Freund: das was hier wird gelesen, / wie schlecht es immer ist, soll künftig doch allein / bezeugen meine Treu, wann nichts von uns wird sein.“
Dieser höchst anspielungsreichen, verinnerlichten Erzähllogik folgt auch die Logik der Sprache Joachim Wittstocks, die – wenngleich in Prosa – paradoxerweise das Prosaische beständig aus ihr zu tilgen sucht. Das Äußere macht dabei beständig dem Innen Platz: „Das Plateau rückt näher, rückt einem auf den Leib. Das Zibinstal ist nun flüchtiger, vergangener, ein Feld der Erinnerung. Die Stromleitungen sind in dienender Haltung. Hochgespannte Demut.“ Wie die Busfahrt, so werden auch die Reiseleiter beschrieben, in hoch gestimmter Formulierung mit lutherbiblischen Anklängen: „Aber siehe, des Reisebegleitpersonals sind ihrer zwei.“ Wer eine solche Sprache genießt, wird Joachim Wittstocks „Karussellpolka“ doppelt und dreifach genießen können.