Beim diesjährigen Internationalen Filmfestival in Cannes war Rumänien in der Kategorie „Un Certain Regard“ mit zwei herausragenden Filmen vertreten: mit Corneliu Porumboius Streifen „Comoara“ (Der Schatz), der mit dem Preis „Un Certain Talent“ ausgezeichnet wurde, sowie mit dem neuesten Film von Radu Muntean „Un etaj mai jos“ (Ein Stockwerk tiefer), der seit Mitte September in den rumänischen Kinos zu sehen ist. Radu Muntean knüpft mit seinem jüngsten kinematografischen Opus an den Erfolg seines Filmes „Marţi, după Crăciun“ (Dienstag, nach Weihnachten) an, der vor fünf Jahren ebenfalls beim Filmfestival in Cannes in der Kategorie „Un Certain Regard“ eine Nominierung erhielt.
Bei beiden Filmen hat Radu Muntean auch am Drehbuch mitgeschrieben, in beiden Filmen greift er hinein ins volle Leben der rumänischen Gegenwart: Fragen der Gesellschaftsethik, Probleme des sozialen Verhaltens, Formen der psychologischen Bewältigung des Alltags und mentale Überlebensstrategien werden gleichsam wie im Laboratorium vorgeführt, das nicht von ungefähr die rumänische Hauptstadt Bukarest ist.
Die Fallstudie, der sich der Film „Un etaj mai jos“ widmet, beginnt nach einem kurzen Prolog, der die Hauptfigur des Films Sandu Pătraşcu (überzeugend verkörpert von Teodor Corban) in seinem Alltagsleben präsentiert, mit einem Paukenschlag. Im Wohnblock, in dem Sandu mit seiner Frau Olga und seinem halbwüchsigen Sohn Matei lebt, ist eine Studentin, die ein Stockwerk tiefer wohnt, in ihrem Appartement zu Tode gekommen. Polizei und Bewohner rätseln, ob es sich bei diesem tragischen Ereignis um einen Unfall oder um ein Gewaltverbrechen handelt. Ein Kommissar, der alle Bewohner des Blocks, unter ihnen auch die Pătraşcus, befragt, findet keine Anhaltspunkte für die Hypothese eines Totschlags oder gar Mords.
Der einzige, der zur Aufklärung des Falles beitragen könnte, schweigt: der Familienvater Sandu. Denn er hat (wie vielleicht auch etliche andere Mitbewohner) bei seinen Gängen durchs Treppenhaus mitbekommen, dass die Studentin schon vor ihrem Tode ein Opfer häuslicher Gewalt gewesen ist. Der mit ihr befreundete und bei ihr ein und aus gehende Vali Dima (abgründig porträtiert von Iulian Postelnicu) sperrt die Studentin in ihrer eigenen Wohnung ein, quält und schlägt sie derart, dass die Schmerzensschreie noch draußen im Treppenhaus zu hören sind.
Dem Betrachter des Films ist also von vornherein klar, wer die Studentin auf dem Gewissen hat, er weiß auch, dass Sandu dies weiß, und dass der Täter weiß, dass es in Sandu mindestens einen Mitwisser seiner Tat gibt. Es handelt sich hier also um keinen Kriminal- oder Detektivfilm, bei dem es darauf ankommt, den Mörder zu finden oder zu überführen. Vielmehr steht ein ethisches Problem im Zentrum des Films, das der Verantwortung: für sich selbst, für die eigene Familie, für den Anderen.
Im psychologischen Laboratorium der Filmwerkstatt Radu Munteans werden diese einzelnen Dimensionen der ethischen Verantwortung nun der Reihe nach durchgespielt. Sandu wählt für sich selbst dem Täter Vali gegenüber die Strategie der Nichtbeachtung oder Indifferenz. Als Vali die Dienste von Sandus Firma in Anspruch nehmen möchte – Sandu unterstützt seine zahlenden Kunden in allen Fragen rund ums Auto wie Zulassung, Ummeldung etc. –, behandelt er Vali wie jeden anderen Klienten und akzeptiert, wohl wissend, mit wem er es zu tun hat.
Der psychische Druck auf Sandu steigt jedoch, als er erkennen muss, dass sich Vali auch an seine Familie heranmacht: Als Computerfachmann berät er Sandus Sohn Matei, als hilfsbereiter Bekannter der Familie lässt er sich von Sandus Frau sogar bekochen, der Feind und Täter dringt also zunehmend in Sandus Familie ein, was auch als Drohgebärde gegen den Familienvater interpretiert werden kann, sein gefährliches Mitwissen tunlichst für sich zu behalten.
Sandu versucht dem Druck, der sich immer mehr in ihm aufstaut, zunächst dadurch zu begegnen, dass er einen alten Freund, der von Beruf Polizist ist, aufsucht. Bei der kurzen Begegnung offenbart er sich diesem aber nicht, bittet ihn nicht um Hilfe, und so bleibt Sandu weiterhin mit seinem Gewissensproblem allein. Das Geschehen kulminiert schließlich bei der Ummeldung von Valis Auto. Vali demütigt ihn, indem er Sandu zwingt, hohe Summen für ihn vorzustrecken, indem er dessen guten Ruf geschäftsschädigend ruiniert, indem er ihn mehrfach warten lässt und indem er ihn dann unverhohlen auf Sandus Mitwisserschaft anspricht. Schließlich entlädt sich die aufgestaute Energie in einer Schlägerei zwischen den beiden Geschäftspartnern, bei der Sandu Vali androht, ihn umzubringen, wenn dieser nicht gänzlich aus seinem Leben und dem seiner Familie verschwindet. Drei kurze Sequenzen schließen den Film epiloghaft ab: die Versorgung der körperlichen Wunden Sandus durch dessen Ehefrau; der Einwurf von Sandus Rechnung für die von ihm erbrachten Dienste in Valis Briefkasten; der von Alpträumen heimgesuchte Sohn Matei, der im elterlichen Bett Schutz und Zuflucht sucht.
Das große Rätsel für den Betrachter des Films ist und bleibt: Warum meldet Sandu nicht von Anfang an der Polizei seinen Verdacht? Warum fehlt ihm die Empathie für die getötete Studentin und für die Familie des Opfers? Warum zieht er sich in sich selbst zurück, anstatt aus sich herauszugehen, Zivilcourage zu zeigen und den mutmaßlichen Täter anzuzeigen? Die Antwort darauf liegt in Sandus Gesellschaftsbild begründet. Der Andere ist in Sandus Augen kein freies, gleiches und brüderliches Gegenüber, vielmehr ist der Andere per se Feind der eigenen Interessen, die es auch entgegen moralischen Prinzipien rücksichtslos durchzusetzen gilt. Genau darin besteht auch Sandus Erfolgsrezept in seinem Beruf. Er verschafft seinen Kunden Vorteile, die für alle Anderen, die nicht seine Kunden sind, Nachteile mit sich bringen. Indem er Warteschlangen umgeht, in Hinterzimmern heimlich verhandelt, die Anderen, die sich an die Regeln halten, übervorteilt und ihnen die Zeit stiehlt, die er für seine Kunden einspart, wird Sandus Haltung zum Inbegriff eines empathielosen, egoistischen und nepotistischen Denkens. Dass Mitleid mit dem Anderen das Fundament einer Gesellschaftsethik bilden könnte, wie Schopenhauer dies sogar gegen seinen Lehrmeister Kant behauptete, hätte bei der Filmfigur Sandu wohl nur Kopfschütteln ausgelöst.
Radu Munteans Film besticht gerade darin, dass er die Wirkung dieses Stachels des sozialen Gewissens an seinem Protagonisten Sandu in einer Vielzahl von Szenen peinlich genau, gleichsam vivisezierend, vorführt: Wenn Sandu immer mehr in sich selbst versinkt; wenn er der Schwester der Toten unbeholfen kondoliert; wenn er die Tote gegen Vorurteile im Familienkreis in Schutz nimmt; wenn er heimlich via Facebook Einblick in das Leben der getöteten Studentin nimmt. Die wunderbare Kamera Tudor Lucacius reißt den Zuschauer in den Taumel von Sandus Gewissensnot mit hinein, und wenn draußen hinter den Autofenstern die Boulevards von Bukarest vorbeiziehen, ist man mitten im Malstrom einer Gesellschaft von Individuen, die Verantwortung für sich selbst übernehmen, indem sie die Verantwortung für den Anderen verweigern.