Die Gestalt des Don Giovanni, wie sie vom italienischen Librettisten Lorenzo da Ponte literarisch bearbeitet und vom österreichischen Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart in Musik gesetzt wurde, gehört zu den konsequentesten und einheitlichsten Figuren der Opernbühne. Sein Lebenstrieb geht buchstäblich über Leichen, sein Streben gibt sich nicht mit eigenem Lustgewinn zufrieden, sondern weidet sich ebenso lustvoll am Unglück anderer. Verkleidung dient dabei nicht dem Verbergen, sondern der Enthüllung seines Wesens, das den erfüllten Augenblick nicht festhalten will, sondern zwanghaft loslässt, um sogleich dem nächsten und verheißungsvolleren zuzustreben.
Mozarts und da Pontes Don Giovanni steht jenseits von Gut und Böse, Moral ist allenfalls etwas für die anderen. Sein schreckliches Ende taugt nicht zur ethischen oder religiösen Erbauung. Er geht furchtlos in den Tod und zeigt dabei keinerlei Reue. Die Aufforderung des toten Komturs, ihm die Hand zum Pfande zu geben („Dammi la mano in pegno“), ist nur eine ironischer Nachklang von Don Giovannis Liebesduett mit Zerlina, die er mit den Worten „Là ci darem la mano“ (Reich’ mir die Hand, mein Leben) zu verführen trachtet. Selbst der Moment des Todes wird von Don Giovanni nicht moralisch oder eschatologisch, sondern bloß physisch erfahren: Er spürt die Kälte der Hand, den körperlichen Tremor, die Lähmung der Sinne, schreckliches Feuer, viszerales Toben.
Folgerichtig ließ die Wiener Erstaufführung vom 7. Mai 1788 das Stück mit Don Giovannis Untergang enden, während die Prager Uraufführung vom 29. Oktober 1787 noch eine zusätzliche Szene, die scena ultima, bot, in der die Moral, verkörpert durch die von Don Giovanni Geschädigten, schließlich zu ihrem Recht kommt: Don Ottavio freut sich darin auf seine Hochzeit, die seine Braut Donna Anna aus Gründen des Anstands noch ein wenig aufschieben möchte; Donna Elvira geht enttäuscht ins Kloster; Zerlina vergisst den Verführer am Arm ihres Gatten Masetto; und Leporello sucht sich einen neuen, besseren Herrn. Am Ende stimmen alle in den erlösenden Gesang ein: „Also stirbt, wer böses tat: jedem Sünder wird Vergeltung, wenn die letzte Stunde naht.“
Der Bukarester „Don Giovanni“, der in der laufenden Spielzeit im Opernhaus gegeben wird, hatte am 17. Februar dieses Jahres an der Nationaloper Premiere. Frühere Bukarester Neuinszenierungen jener Mozartschen Oper fanden in den Jahren 1936, 1967 und 1995 statt. Es gab aber auch schon vor der Gründung der Nationaloper „Don Giovanni“-Aufführungen in Bukarest, und zwar in den Jahren 1834, 1886/1887 sowie 1899/1900. Die gegenwärtig gespielte Inszenierung stellt eine Mischform da, insofern sie dem Text und der Musik der Wiener Fassung folgt, aber auf die Schlussszene der Prager Urfassung nicht verzichtet.
Musikalisch stellt die neue Bukarester „Don Giovanni“-Inszenierung den Opernbesucher vollauf zufrieden. Ionuţ Pascu gab – in der Aufführung vom 31. Mai 2013 – den Titelhelden fechtend, trinkend, lebenslustig und volltönend, Don Ottavio (Augustin Hotea) ließ seinen feinen Tenor subtil erklingen, während der reiche Sopran von Donna Anna (Edith Borsos) in den oberen Lagen manchmal zufiel. Leporello (Cătălin Ţoropoc) begleitete seinen Herrn mit warmem Timbre und lobte seine Verdienste humorvoll in der sog. Registerarie. Donna Elvira (Crina Zancu) hatte einen starken Auftritt in der zehnten Szene des zweiten Aktes, Zerlina (Mihaela Ispan) glänzte sowohl solistisch als auch im Duett mit Don Giovanni als Verführer und Masetto (Florin Simionca) als Ehemann. Der Komtur (Horia Sandu) beeindruckte auf der Bühne wie auch im Zuschauerraum und in der Direktionsloge, von wo aus er als steinerner Gast seinen runden Bass ertönen ließ. Alle Stimmen begeisterten sowohl solistisch als auch im Ensemble, vor allem in den Szenen mit Sextett- und Septettbesetzung. Die Schlussszene, die am Rande des Orchestergrabens auf der Zuhörerseite gegeben wurde, bekräftigte den gelungenen Gesamteindruck, der vom Opernchor (Stelian Olariu) und vom Orchester unter der Leitung von Vlad Conta musikalisch gekonnt abgerundet wurde.
Auch für die Augen ist in der Bukarester Neuinszenierung unter der Regie von Anda Tăbăcaru Hogea einiges geboten. Videoanimationen (Gabriel Kosuth, Anca Albani), projiziert auf Leinwand oder Gazevorhang, begleiten das szenische Geschehen: galaktische Nebel, fallende Blumen und Blütenblätter, ein Paar, das scherenschnittartig eine Rose umtanzt. Skulpturen aus Metall und Gips (Ionuţ Martin) werden aufgefahren, wobei alles im Geiste erotischer Anzüglichkeit modelliert ist: die Rückenlehne von Don Giovannis Sessel als nackter Frauenhalbakt, die Buchdeckel seines amourösen Registers (während der gleichnamigen Arie passieren zudem erotische Fotografien Revue) als weibliche Flachreliefs, sein Motorrad mit stilisiertem angewinkeltem Frauenbein als Designelement. Seine Frisierkommode, die von Leporello beständig hereingefahren wird und als Requisit ein wenig zu sehr strapaziert wird, wirkt mit ihren in Körperakte installierten Schubladen wie eine Reminiszenz an Dalís Gemälde „Brennende Giraffe“.
Das Bühnenbild (Anca Albani) wird dominiert von einer an einer Kette aufgehängten goldenen Kugel, die einmal als Pupille fungiert (manchmal, wenn es in der Bühnenhandlung um Moral geht, dreht sie sich sogar und eine schillernde Iris wird sichtbar), dann auch als mahnendes Pendel und schließlich als Damokles- und Demolierkugel, die sich strafend auf den wollüstigen Wüstling herabsenkt und ihn zerdrückt. Die disparate Mischung von traditionellen Requisiten (Florett, Champagner, Trinkkelche, Konfetti), beweglichen abstrakten Kulissenelementen (die koketterweise mit Tüchern bespannt sind, durch deren Schlupfschlitze die Sänger bisweilen abgehen) und künstlerisch modellierten Dekorationsskulpturen sorgt infolge ihrer stilistischen Diversität gelegentlich für Irritation.
Das Bühnengeschehen wird zusätzlich durch Balletteinlagen animiert. Ein tänzerisches Alter Ego von Don Giovanni tritt auf, drei Balletteusen umgarnen den ausschweifenden Edelmann und ziehen ihn, nachdem drei lebendige Statuen von ihren Podesten herab vergeblich versucht haben, ihn zu Tode zu erschrecken, schlussendlich in seinen Untergang. Seria- und Buffa-Elemente halten sich die Waage in der Bukarester Neuinszenierung von „Don Giovanni“, die für Ohren, Augen und Nase (in der Nebelszene) einiges bietet, frei nach der Devise des Theaterdirektors in Goethes „Faust“: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“