Vom Glück und Unglück des Schreibens

Ingeborg Bachmanns autobiographische Skizzen, Notate und Tagebucheintragungen sind ein Glücksfall für die Interpreten ihres Werkes

„Nach Ingeborg Bachmanns Kummer mit Paul Celan war die Verehrung, die ihr Hans Werner Henze entgegenbrachte, Balsam für ihre Wunden.“ Das schreibt Andrea Stoll, in ihrer 2013 erschienenen Ingeborg-Bachmann-Biographie „Der dunkle Glanz der Freiheit“. Auch die Bachmann-Biographin Inna Hartwig attestiert Bachmann und Henze in ihrem 2017 erschienenen Buch „Wer war Ingeborg Bachmann“ „eine zwillinghaft anmutende Freundschaft von enormer künstlerischer Produktivität“. Dass „Königstocher und Götterliebling“ (Stoll) füreinander eine unversiegbare Quelle der Inspiration und des kreativen Ansporns waren, ist unleugbar: Der Komponist vertonte Bachmanns Zyklus „Lieder von einer Insel“ und ihr Hörspiel „Die Zikaden“; die Dichterin verfasste den Monolog des Fürsten Myschkin für Henzes Ballettpantomime „Der Idiot“ neu und schrieb Libretti für seine Opern („Der Prinz von Homburg“ und „Der junge Lord“). Die Erkenntnis, dass Ingeborg Bachmann mit Henze genauso unglücklich war wie in all ihren anderen Männerliaisons, bringt allerdings erst der im Juli 2024 in der Salzburger Bachmann Edition erschienene Band „Senza casa“ ans Tageslicht: Wie „Male oscuro“, die 2017 herausgegebenen „Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit“, wartet auch dieses Buch – trotz der vielen Publikationen von und über Ingeborg Bachmann – mit Überraschungen zur Persönlichkeit der österreichischen Schriftstellerin auf.

Bei „Senza casa“ handelt es sich um Selbstzeugnisse wie das bereits 2010 erschienene Kriegstagebuch Ingeborg Bachmanns aus den Jahren 1944/45, das allerdings in der vorliegenden Fassung mit akribisch recherchierten Kommentaren des Herausgeberteams versehen ist. Doch mit dem Großteil der anderen Texte dieses Bandes betreten wir autobiografisches Neuland. Die losen, spontan niedergeschriebenen Gedanken, die vagen Assoziationen, die ums Verstehen der eigenen Lebenssituation ringenden Notate Ingeborg Bachmanns entziehen sich der endgültigen interpretatorischen Festlegung und geben Rätsel auf. Hilfestellung könnte ein Roman leisten: Sylvia Plaths „Glasglocke“. Aus Ingeborg Bachmanns Feder stammt ein bereits 1981 erschienenes Essay-Fragment über Plath. Den Prozess, der zu Bachmanns autobiografischen Notizen geführt haben könnte, findet sich auch bei Plath – „mein Verstand rutschte immer wieder aus der Schlinge des Gedankens und schwang sich wie ein Vogel hinauf in die leere Luft“. Die Aufzeichnungen aus „Senza casa“ zeigen Bachmann als einen Menschen, der sich der Schlinge des manipulierenden Verstandes entzieht und der sich in Gegenden emporschwingt, die zu einem anderen Atmen zwingen.

Was Plath in ihrem einzigen, im Jahre ihres Selbstmords veröffentlichten Roman anmerkt, könnte genauso gut eine Bachmann-Reflexion sein: „Ich erblickte in der Ferne irgendeinen Mann ohne Fehl und Tadel, aber sobald er sich näherte, sah ich, daß er nicht in Frage kam. / Auch aus diesem Grund wollte ich nicht heiraten. Uneingeschränkte Sicherheit war das letzte, was ich wollte, und ich wollte auch nicht die Stelle sein, von der ein Pfeil abfliegt. Ich wollte Abwechslung und Aufregung und wollte selbst in alle möglichen Richtungen fliegen.“ Plath bleibt der Versuch, ein eigenständiges, ungebundenes, aufregendes Leben zu führen, verwehrt. Seelisch und körperlich verletzt, zieht die 30-Jährige einen Schlussstrich unter ihr Leben. Scheinbar anders geht Ingeborg Bachmann vor: Der Pfad der Selbstverwirklichung lässt sie – äußerlich betrachtet – von einem Erfolg zum nächsten taumeln. Männer, Medien, Mäzene hofieren ihr. Von allem hat sie im Überfluss. Und dennoch gibt es die tiefe existenzielle Unbehaustheit. Ein „geheimes Unglück“ attestiert Bachmann der amerikanischen Schriftstellerin. Doch in ihren eigenen tagebuchartigen Eintragungen, vom Herausgeberteam treffend unter dem Begriff „Senza casa“ zusammengefasst, kommt eine tief gelagerte Lebensdissonanz zum Tragen, die den Schluss nahelegt: Ingeborg Bachmann bekommt der gesellschaftliche Maskenball, an dem sie mit Haut und Haaren partizipiert, nicht.

Schreiben ist für Bachmann „ein stetes Zurückdrängen von Dunkelheit“, wie sie in einem autobiografischen Fragment festhält. Schreiben ist Zuflucht, ein Mittel, um dem quälenden Sich-Ohne-Zuhause-Fühlen zu entkommen. Deshalb empfindet sie das Nicht-Schreiben-Können gerade-zu als Apokalypse. Der Zustand, am Schreiben gehindert zu werden, verfolgt sie bis in ihre Träume: Die Alpträume, die sie in „Male oscuro“ für ihren Psychotherapeuten zu Papier bringt, werden später in ihren Roman „Malina“ einfließen und sind Zeugnisse eines großen Schmerzes. Auch in „Senza casa“ kommt der „Schrecken vor der unbekannten Konstellation des Draußen“ zur Sprache. Aber auch die „pathologische Angst vor der Ortsveränderung“, das „wahnsinnige Gefühl von Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit“, das sie mit den Worten „in mir ist alles stehengeblieben“ beschreibt. Es sind auf Zettel notierte Selbstdiagnosen. Dass Ingeborg Bachmann diese Papiere – trotz der vielen Umzüge – nicht entsorgt, zeugt davon, dass sie ihr etwas bedeuten. Oder ist es nur Zufall, dass diese in ihren Nachlass gelangen? Jedenfalls wird eins klar: Die Dichterin, die selbst in ihrer Prosa Lyrikerin bleibt, reflektiert schonungslos über sich selbst und konstatiert – „ich habe genug mit mir zu tun“.

Gegen den Lebensschmerz wird das Schreiben eingesetzt: „Man müßte sich töten können mit Arbeit, die Besinnungslosigkeit der Trauer verwandeln können.“ Doch bleibt der Konjunktiv bis an ihr tragisches Lebensende erhalten: Unruhige Nächte, lähmende Perioden voller Selbstzweifel und voller überdimensionierten Erwartungen führen häufig zu Sinn- und Schreibkrisen. Nach ihren ersten literarischen Erfolgen – dem Erscheinen ihres ersten Lyrikbandes „Die gestundete Zeit“ im Jahr 1953 und der Würdigung durch die Gruppe 47, deren Preis sie zugesprochen bekommt – verbringt sie im Spätsommer und Herbst 1953 kreative, helle Tage im italienischen Süden. Doch aus derselben, idyllisch anmutenden Zeit stammen Bekenntnisse, die Bachmanns Schatten offenbaren: Trotz Meer, Wind, Sand und Sterne sowie der Anwesenheit ihres „Prinzen“ Henze hält sie in einem Notat „dieses furchtbare, erstickende Gefühl“ fest, „ganz überflüssig zu sein, nichts zu können, das Einfache nicht zu können: einfach da sein, umweglos, einfach sprechen zu können, wie andere sprechen (…) und das ganze, gigantische Unglück des Schreibens“. Und in solchen „tödlichen Nächten“ wünscht sie sich nichts sehnlicher als „ein Ende, ein Ende der Verzweiflung, ein Ende dieser stückhaften und unerfüllten Existenz“.

Bachmann hat zwar schon einige Liebschaften (mit dem Wiener Literaturpapst Hans Weigel und dem aus der Bukowina stammenden Dichter Paul Celan) hinter sich, dennoch wirkt sie in der Zeit, die sie mit Henze auf Ischia, später in Neapel verbringt, unsicher. Ihre bereits als Jugendliche in ihrem Kriegstagebuch an Tag gelegte Position, nicht heiraten zu wollen, vertritt sie zwar mindes-tens so konsequent wie eine Simone de Beauvoir: „Die Ehe ist eine unmögliche Institution. Sie ist unmöglich für eine Frau, die arbeitet und die denkt und selber etwas will“ wird Bachmann in einem ORF-Interview verkünden. Dennoch scheint sie sich nach einer „Bindung“ zu sehnen. Henzes Homosexualität macht ihr zu schaffen. Das kurze Zusammenleben mit ihm, über das sie im „Neapolitanischen Tagebuch“ reflektiert, erfordert einen hohen seelischen Tribut: „Es ist eine Übermacht, und ich kann nichts dagegen tun. Mir ist zum Sterben elend. Jeder Bauernjunge hat mehr Reiz für ihn als ich.“ „Ich habe keine Kraft mehr, ich kann nicht mehr. Aber was ich kann: Haltung, Haltung, Haltung. Und um Gottes Willen nicht zeigen, wie elend mir ist.“ Sie lehnt den Opferstatus ab – „ich bin nicht die Frau, die sich als Opfer anbietet. / Ich will kein Opfer sein, und ich halte ein Opfer für eine schreckliche Sache“.

Ihr Umfeld hat Ingeborg Bachmann mit ihrer lichten Seite geblendet, ja verführt. Dass ihr innerlich anders zumute war, bezeugen die authentischen Dokumente aus „Male oscuro“ und „Senza casa“ – Aufzeichnungen, die nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt waren. Für Exegeten ihres Werks sind beide Bücher allerdings ein seltener Glücksfall, denn sie erlauben einen tiefen lebenshistorischen Blick auf ihr Werk.


Ingeborg Bachmann: „Senza casa“. Autobiographische Skizzen, Notate und Tagebuch- eintragungen. Hg. v. Isolde Schiffermüller, Gabriella Pelloni und Silvia Bengesser, mit einem Vorwort von Hans Höller, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 336S., 42,00Euro. ISBN 9783518431573