Vor etwa zwei Jahren hatte der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler und Publizist Hans Ulrich Gumbrecht in der Neuen Zürcher Zeitung über ihn geschrieben, er sei „der heiterste aller Philosophen“, einer, der in einer Denküberfülle lebe, seine Gedanken in Buchform unter die Menschen bringe, dabei provoziere, ohne provozieren zu wollen, und stets einen heiteren Ton bewahre. Dass Gumbrecht mit seiner hier verkürzt dargestellten Charakterisierung des deutschen Philosophen, Kulturwissenschaftlers und Publizisten Peter Sloterdijk gar nicht falsch liegt, bewies Sloterdijk am Samstagnachmittag einem etwas verstockten Temeswarer Publikum selbst. Eingeladen wurde er als erster Stargast des Kulturhauptstadt-Jahres von der West-Universität, die ihm gestern auch den Ehrendoktortitel verliehen hat.
Seine geplant einstündige Vorlesung, die er „Europäische Perspektiven“ betitelte und die die Veranstalter in ihrem Vortragsprogramm „Ideen, die die Welt bewegen“ eingereiht haben, musste Sloterdijk aufgrund der amateurhaften Organisierung kürzen. Zu verlieren hatten nur die Zuhörer, die in einer deutlich höheren Zahl als erwartet erschienen waren und für die es seitens des Veranstalters letztendlich nicht ausreichend Kopfhörersets gab; entsprechend musste auf das Simultandolmetschen aus dem Deutschen verzichtet und auf Konsekutivdolmetschen umgestellt werden. Die beiden Dolmetscher – Werner Kremm und Henrike Brădiceanu Persem – schlugen sich relativ gut durch, der kluge Wortschöpfer Sloterdijk machte ihnen die Aufgabe nicht gerade leicht.
Seinem Publikum lieferte Sloterdijk zunächst eine Diagnose: Über Europa breite sich „ein Schleier aus vergoldeter Unzufriedenheit“ aus, der europäische modus vivendi sei von einer „konstitutionellen Konfusion“ geprägt. Europa sei „wunderbar morbide, konfus, mürrisch, vieldeutig und vital“. Aber gleichzeitig sei es „für die meisten seiner heutigen Bewohner noch immer ein zu großer Mantel“, man sei in das neue politische Format – die Europäische Union – „noch nicht wirklich hineingewachsen“. Also sitze das europäische Gewand noch nicht wie angegossen, es sei zu großzügig geschnitten. Europas Bürger seien nationalisierte Menschen, deren Eintritt in eine Nation eine enorme Wachstumsleistung sei. So lautet also der Befund Sloterdijks: Europäische Menschen sind mit einer nationalen und einer europäischen Identität ausgestattet. Ob Europa das Festland sei, worauf Bewohner nationaler Gewässer treten, oder ob man im europäischen Wasser schwimme und erst in den Nationen wieder festen Boden unter den Füßen habe, das sei noch nicht klar.
„Das Dasein im europäischen Format“ könne man meistern, wenn man auf die „europäische Mythosdynamik“ zurückgreife, sagte Sloterdijk und begann einen beeindruckenden Exkurs, den er im Gründungsmythos des Römischen Reichs ansiedelte, bei Aeneas und dessen Flucht aus dem eroberten Troja. Man könne in Vergils Aeneis die Geschichte eines Flüchtlings erkennen, der aus der zerstörten Heimat kommend den Aufbruch in ein zweites Leben wagt. Aeneas, der seinen Vater, seinen Sohn und die Hausgötter mitbringt und somit hinüberrettet, sei ein „Qualitätseinwanderer“, der jenen Kurs nach Westen einschlägt, den die Europäer später stets bevorzugen werden.
Für Sloterdijk verkörpert sich das vergilische Europa heute in den Vereinigten Staaten von Amerika, dort sei das ursprüngliche Europa ab dem 17. Jahrhundert zu finden. Die Amerikaner hätten besser als die alten Europäer verstanden, dass es bei Vergil und seinem Aeneas um den „Mythos der zweiten Chance“ geht, um die Schaffung eines Lebensraums, „in dem Verlierer in einen regenerativen Erfolgszusammenhang zurückkehren“.
Ferner ging der Redner auf Teile der europäischen Geschichte ein, zum Beispiel auf die Bevölkerungsexplosion vergangener Jahrhunderte, die heute Europa hinter sich gelassen habe, es befände sich nun in einer Ära der rapiden demographischen Schrumpfung. Die sei mit ein Grund für den Verzicht auf imperiale Träumereien zugunsten einer „reuevollen Form von Minimalismus“. Europa bilde heute „eine wesenhaft post-imperiale Größe“, in der die Wappenraubtiere wie Adler und Löwe keine Rolle mehr spielen. Die historisch begründete Qualität der jetzigen Europäischen Union erweise sich darin, dass man die einstigen Erfolgs- und Kommunikationsgottheiten der Römer, Victoria, Fama und Fortuna, voneinander getrennt habe.
Sloterdijk macht vier Merkmale des heutigen Europa aus, es sei post-imperial, post-heroisch, post-machistisch, post-enthusiastisch. Was wiederum bedeute, dass dieses Europa, das die imperialistische Versuchung abgeschüttelt habe, sich von den Traditionen des Heldenkults, der Todesverehrung und der Opferverherrlichung losgelöst habe, die Idee des Adels verabscheue, den weiblichen Anteil an der meritokratischen Wende reklamiere und ein Klima der wohltemperierten Skepsis und des Verzichts auf mediale Hysterie pflege, dieses Europa habe aber Feinde. Es handele sich hierbei um „die Ungeimpften“, will heißen, „um jene, die noch nicht die Herdenimmunität einer skeptischen, aufgeklärten Zivilisation besitzen würden“. Originalton Sloterdijk: „Der natürliche Gegner der Europäer ist alles, was weiterhin imperial, heroisch, machistisch, hysterisch-enthusiastisch und borniert unilateral auftreten will.“
Natürlich konnte der Vortragende keinen Bogen um Russland machen, genauso wie er auch den britischen Austritt aus der EU nicht unerwähnt lassen konnte. Russland habe an der Konversion Europas zu einem „post-imperialen modus vivendi“ nicht teilgenommen, der Kommunimus sei nur eine „temporäre Maske des Imperialismus“ gewesen. Nun sei aber der Kadaver des russischen Imperiums von 1917 nach einem Jahrhundert im Frost aufgetaut, „über ihn summen von Neuem die Friedhofsfliegen“, konstatierte Sloterdijk. Auch die Briten seien von imperialen Nostalgien geplagt, aber als „misslungene Franzosen“, die sie nun einmal seien, würden sie ein wachendes Auge über den Kontinent behalten, ihr Einsatz für die Ukraine würde in der Kontinuität britischer Außenpolitik stehen, die es niemals zugelassen habe, dass auf dem Kontinent eine Macht entstehe, die für die britischen Inseln gefährlich werden könne.
Man könnte Sloterdijks entspannten, kulturgeschichtlich brillanten, von keinem Pathos, aber dafür von tiefer Menschlichkeit geprägten Vortrag als ein Plädoyer für jenes Europa werten, das gerade in diesen Zeiten vermisst wird: aufgeklärt, unhysterisch, post-enthusiastisch, sozial, offen, wohltemperiert skeptisch. Inwiefern das Temeswarer Publikum diesem höchst lesens- und zuhörenswerten Philosophen und Wortkünstler folgen konnte, welche Bestürzung er auslösen konnte, als er zum Beispiel sagte, dass er das Projekt Christentum in Europa für gescheitert ansieht, ging am Ende aus den merkwürdigen Fragen hervor, die ihm aus dem Publikum gestellt wurden. Es ging da um vollblütige Rumänen, um die rumänische Landschaft und die Abwechslung von Hügeln und Tälern, um die Griechen der Antike und letztendlich um die Frage, wie er Europa in 100 Jahren sehe. Zum einen, sagte Sloterdijk, wünsche er, dass in 100 Jahren der Klimawandel es den Temeswarern ermöglichen werde, sich in einer Weinbar über die Vorzüge des norwegischen Weins auszutauschen. Zum anderen, glaube er, dass in 100 Jahren die grüne Bewegung zu einem qualifizierten Antihumanismus mutieren werde, dass es dann nur noch zwei große Parteien geben werde, die um eine einzige Frage streiten werden: Müsse man die Menschheit halbieren oder vierteln? Tatsächlich, Sloterdijk bleibt der heiterste aller Philosophen.