Von trinkfreudigen Deutschen und rebellischen Ungarn

Der Band „Staatspatriotismus, Nationalismus, Internationalismus“ von Annamária Biró behandelt  „Ideologien der Aufklärung“ in Siebenbürgen

Annamária Biró: Staatspatriotismus, Nationalismus, Internationalismus. Ideologien von der Aufklärung bis zum Aktivismus in Siebenbürgen und in Ungarn im langen 19. Jahrhundert (1789-1918). Praesens Verlag: Wien 2023, 304 S., ISBN 978-3-7069-1188-7

Jede Epoche hat ihre ureigene geistige und kulturelle Prägung, die sich auch als Resultat politischer, philosophischer und theologischer Bewegungen manifestiert. Nicht nur Herrscherhäuser und politisch-geschichtliche Ereignisse definieren und identifizieren Epochen, sondern auch geistige Strömungen. Diese können sich manchmal auch überlappen und kongruierend, konkurrierend oder komplementär auftreten wie etwa Reformation und Renaissance im 16. Jahrhundert. Die Zeit von 1789 bis 1918 gilt als das „lange 19. Jahrhundert“. In dieser Zeit griffen in Europa unterschiedliche geistige und politische Strömungen um sich. Als besonders relevant erwies sich dabei die Aufklärung und ihre Rezeption und Nachwirkungen in verschiedenen Bereichen von Politik, Gesellschaft, Philosophie, Kultur und Literatur. 

Unter dem Titel „Staatspatriotismus, Nationalismus, Internationalismus“ untersucht nun Annamária Biró in einem neuen Buch „Ideologien von der Aufklärung bis zum Aktivismus in Siebenbürgen und in Ungarn im langen 19. Jahrhundert“. Die Autorin unterrichtet ungarische Literatur an der Babe{-Bolyai-Universität in Klausenburg. Sie forscht zur Geschichte der deutsch-ungarischen kulturellen und literarischen Beziehungen in Siebenbürgen und im Königreich Ungarn und bietet hier eine Sammlung an Studien zu Literatur, Wissenschaften und Pressewesen sowie zu relevanten Persönlichkeiten der Kulturgeschichte wie auch den Wechselbeziehungen im Transfer geistiger Ideen und Konzepte. 

Die einzelnen Beiträge des Aufsatzbandes untersuchen exemplarisch, welche Wirkung das in deutschen Landen und in Wien rezipierte kulturelle und wissenschaftliche Gedankengut der Aufklärung in Ungarn und in Siebenbürgen im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts entfaltete. Ins 20. Jahrhundert verweist der Einzelbeitrag „Literaturpolitische Ideen der deutschen, österreichischen und ungarischen Aktivisten 1908-1925“ (S. 211-294). 

Biró charakterisiert den Untersuchungszeitraum als „Zeit der Ablösung des Gemeinschaftsbewusstseins durch das Nationalbewusstsein, der Gelehrtheit durch die Wissenschaftlichkeit“ und identifiziert Flugschriften und Kleindrucke als „Medien der Verbreitung der identitätsbildenden Strategien des Zeitalters“ sowie Gelehrtengesellschaften und Freimaurerlogen als „Orte der Herausbildung der Sprache der wissenschaftlichen Kommunikation“ (S. 8f.) 

Immer wieder wird ersichtlich, wie sehr politische Entscheidungen des Wiener Hofes mit Prägungen und Privilegien der Völkerschaften im Habsburger Vielvölkerstaat kollidierten. So ist gleich die erste Studie zum Thema „Sprachgebrauch und Sprachreform in Siebenbürgen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Politische und gelehrte Diskurse“ dazu höchst aufschlussreich.

Der aufklärerische Kaiser Joseph II. (*1741; 1765/1780–1790) führte im kirchlichen wie im politisch-administrativen Bereich Reformen durch, die in Siebenbürgen höchst umstritten waren. So hob er die Privilegien der drei anerkannten Nationen der Sachsen, Ungarn und Szekler auf und führte Deutsch als Amtssprache ein. Der Spracherlass des Kaisers von 1784 schlug „ungeheure Wellen“, stellte er doch „die sich zaghaft entfaltenden nationalen Identitätsdiskurse infrage“ (S. 20). Die Siebenbürger Sachsen waren mit der Sprachverordnung natürlich einverstanden, Szekler und Ungarn sabotierten sie. 

Biró schildert die Ablösung des Lateinischen als Wissenschaftssprache durch das Deutsche: „Die siebenbürgisch-deutsche Schriftsprache war rasch imstande, allen Anforderungen der neuen Zeit zu entsprechen.“ (S. 24) Sie gibt eine Übersicht über das Pressewesen in Siebenbürgen und die Entstehung von Sprach- und Gelehrtengesellschaften. Zugleich verweist sie auf das Aufblühen der Freimaurerei, beson-ders der Hermannstädter Loge „Sankt Andreas zu den Drei Seeblättern“, gebildet aus der „gesamten geistigen und politischen Elite Siebenbürgens“ (S. 28) Dem Einfluss der Freimaurerei auf siebenbürgische gelehrte Gesellschaften widmet sie einen eigenen Beitrag (S. 149-164). Galt die Aufklärung einerseits als „Symbol für radikale politische Ansichten“ (S. 153), so deckte sie sich mit der Freimaurerei in der Vermittlung eines „Vernunftglaubens“.

Die ungarische Autorin geht auch auf die Siedlungsgeschichte Siebenbürgens ein und hält fest: „Die Rumänen stellten bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bevölkerungsmehrheit, genossen jedoch weder Privilegien noch einen besonderen Rechtsstatus und bildeten daher keine politische Nation.“ (S. 14) Sie erörtert die Sprachenfrage und Bildungsentwicklung der Siebenbürger Rumänen bis hin zum Supplex Libellus Valachorum. Im-mer wieder wird in dem Band deutlich, wie sehr ethnische und kulturelle Identität mit Raum, Kontinuität und Sprache begründet wurde. So etwa in dem Beitrag „Die Siebenbürgische Quartalsschrift“ (1790-1801) als Medium der drei Nationen Siebenbürgens – unter anderem zur Klärung der nationalen Identitätsfrage der Siebenbürger Sachsen“. 

So kam es nach Joseph II. zu einem neuen österreichischen „Staatspatriotismus“, der in dieser Quartalsschrift seinen publizistischen Ausdruck fand. Die Grundlagen dieses Konzepts stammen von dem aufgeklärten Österreicher Joseph von Sonnenfels († 1817). „Der Staatspatriotismus hatte die Gleichsetzung Österreichs mit dem Herrscherhaus propagiert, die Liebe zum gekrönten Haupt sollte die Grundlage der Loyalität aller Völker (…) und ihrer gegenseitigen Zuneigung sein.“ (S. 39) Für die Sachsen bot diese Idee – bzw. Ideologie – Konfliktpotenzial, hatten doch „wahre Staatspatrioten ihre nationalistischen (regionalistischen) Bestrebungen stets den Interessen des Reiches unterzuordnen, und dem konnten die Sachsen nicht zustimmen. (…) Es konnte nicht akzeptiert werden, dass die Verbundenheit mit der Dynastie über die Verbundenheit zum eigenen Volk gestellt werde.“ (S. 41) 
Der Spracherlass von Joseph II. hatte ein Interesse aller Volksgruppen an der Erforschung der eigenen Frühgeschichte ausgelöst. Hier geht Biró auch auf die Theorie der kontinuierlichen deutschen Präsenz in Siebenbürgen ein, die in der „Quartalsschrift“ lange unter Berufung auf Joseph Karl Eder (1760-1810) vertreten worden war und erst dank August Ludwig von Schlözer (1735-1809) obsolet wurde. Diesem polarisierenden deutschen Historiker und Statistiker der Aufklärung und seinem Werk widmet Biró zwei eigene Beiträge über dessen Verhältnis zu Ungarn (S. 79-94) und die Entstehungsgeschichte und Rezeption seines umstrittenen dreibändigen Werks „Kritische Sammlungen zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen“ (S. 95-128). Schlözer hatte bereits Mitte der 1760er Jahre eine moderne „historisch-kritische Methode der Quellenkritik“ für die Arbeit des Historiker entwickelt (S. 122f.). Warum die „Quartalsschrift“ 1801 eingestellt wurde, bleibt nach Biró unklar. Klar ist hingegen, dass sie „im Dienst der Verbreitung der Ideologie der Aufklärung stand.“ (S. 55) 
Immer wieder werden in dem Band ethnische Fremd- und Selbstbilder thematisiert. So galten die Ungarn als wild und rebellisch, die Deutschen als trinkfreudig, die Rumänen als ungebildet. Die Befindlichkeiten der Volksgruppen entzünden sich immer wieder auch an staatlichen Eingriffen wie dem „Concivilitätsedikt“ von Joseph II. von 1781 als eine „im Geiste des aufgeklärten Absolutismus autokratisch durchgesetzte Änderung des siebenbürgisch-sächsischen Status quo“ (S. 65).

Für die nachjosephinische Zeit analysiert Biró „Sächsische Volksschriften um 1790“ (S. 129-148), die während der kurzen Regierungszeit von Leopold II. (1790-1792) als „Argumentationshilfe für die zum Landtag versammelten Standesvertreter“ dienten (S. 134) und mit historischen und juristischen Argumenten die Identität der Siebenbürger Sachsen und deren politische Ansprüche begründeten. 

Weitere Beiträge behandeln die siebenbürgischen Theologen Johann Seivert (1735-1785) und József Benkö (1740-1814) – „die die Zeitung als Trägerin und Verbreiterin der Aufklärung sahen“ (S. 59) – als Korrespondenten in der Presse Westungarns, den „Aufbau der Infrastruktur der Wissenschaften in Siebenbürgen gegen Ende des 18. Jahrhunderts“ durch die aufklärerisch geprägten Ungarn Sámuel Graf Teleki und dessen Sohn Domokos Teleki sowie Diskurse an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert über die Rolle der Frauen in der Politik.   

Annamária Biró bietet hier ein verdienstvolles gründliches wie hintergründiges kulturgeschichtliches Panorama zu Ungarn, vor allem aber zu Siebenbürgen, das höchst lesenswert ist und gerade in seiner ideengeschichtlichen Profilierung von Persönlichkeiten und Publikationen viele neue Einsichten bietet, Entwicklungen einzuordnen erleichtert und den bestehenden Forschungsstand aktualisiert.