Es ist das Jahr 2000. Gesprochen wird von einem dünnen roten Streifen im Treppenhaus eines Wohnblocks. Ein paar Treppen höher eine rotbraune Pfütze. Vorgetragen wird ein inhaltlich so gut wie leerer Bericht der Polizei. Es ist die Beschreibung des Umfeldes in Jassy, wo ein Mord stattgefunden hat. Darauf hört man die Stimmen der Täter bei dem Prozess. Das tschechische Unternehmen Zelezarny Veseli wollte eine Fabrik in Jassy übernehmen und der Vertreter der Gewerkschaft Tepro, Virgil Săhleanu, hat Proteste gegen die Privatisierung der Fabrik initiiert. Im Auftrag des tschechischen Unternehmers wurde er umgebracht.
Gezeigt wird eine Welt, mit der wenige Leute vertraut sind. Es sind insgesamt sechs Schauspieler in grauen Kostümen, die ausgewählte Protestepisoden aus den letzten 100 Jahren darstellen. Die Darsteller übernehmen der Reihe nach Stimmen von Opfern, Tätern, Arbeitern oder Intellektuellen, Männern oder Frauen aus verschiedenen Zeitperioden – Benachteiligte der Geschichte bekommen auf diese Weise eine Stimme. Der Săhleanu-Fall ist die letzte Episode einer Reihe von turbulenten Geschichten aus dem Theaterstück „Was wir wären, wenn wir wüssten“. Der Aufführungsort – das Zentrum für Erzieherisches Theater „Replika“. Im Zentrum ist die Bühnenausstattung ein riesiges Holzensemble, rund herum sitzt das Publikum; eine deutliche Trennung zwischen Bühne und Zuschauern gibt es nicht.
Das Ziel der Darbietung ist es, die Geschichte der Widerstandsbewegungen der rumänischen Arbeiter zu dokumentieren und darzustellen: Gruppen- und individuelle Geschichten spielen sich vor den Augen der Zuschauer ab, von den Protesten und Streiks zwischen 1918 und 1920, über die Ereignisse, die die Rolle der Frauen in der illegalen kommunistischen Bewegung zeigen, Proteste der Arbeiter in den 70er Jahren bis zum Widerstand einiger Gewerkschaftsvertreter gegenüber den Privatisierungen in den 90er Jahren. Die Initiative, die Vergangenheit zu verarbeiten, zielt auf die Problematisierung der Gemeinsamkeiten mit der Gegenwart. Das Theaterstück ist nicht das Produkt eines einzelnen Regisseurs, sondern das Resultat gemeinsamen Bestrebens: Die Recherche war ein kollektives Vorgehen, alle Teilnehmer des Teams haben daran teilgenommen, haben Kontakt mit den Leuten aufgenommen, die noch am Leben waren. Dabei gab es keine Hierarchie. Das junge Team besteht aus Künstlern wie Mădălina Brânduşe, Paul Dunca, Mihaela Michailov, Katia Pascariu, Alexandru Potocean, Cătălin Rulea, David Schwartz, Ionuţ Sociu und Marius Bogdan Tudor.
Die Plattform für politisches Theater 2015 hat das Ziel, unbeachtete und verdrängte Geschichten durch Theateraufführungen und Werkstätten zu debattieren. Genau das ist nach der Aufführung geschehen – die Zuschauer sind geblieben, um geschichtliche Aspekte zu diskutieren. In Frage gestellt wurde unter anderem die Auswahl der Episoden. Zu den historischen Rekonstruktionen wurden faszinierende musikalische Zwischenspiele hinzugefügt. Man konnte bei den einzelnen Episoden verschiedene Darstellungsstile bemerken – die jüngsten Episoden der Geschichte wurden detailreicher, lebendiger dargestellt als die älteren. Die Aufführung macht den Zuschauer aufmerksam darauf, dass die heutige Situation nur deshalb möglich ist, weil Leute in der Vergangenheit um ihre Rechte gekämpft haben. Das Stück ist ein Aufruf zur Solidarisierung gegen alle Formen von Misshandlung, die man heute erlebt.
Das Projekt wird durch einen Zuschuss von Norwegen, Island und Liechtenstein und von der rumänischen Regierung finanziert. Die Vorführung fand in Bukarest schon dreimal statt, eingeplant wurde eine landesweite Tournee durch Gala]i, Jassy/Iaşi, Temeswar/Timişoara und Craiova im nächsten Monat.