Die Geschichte von Shakespeares Romeo und Julia ist bereits unendliche Male erzählt worden. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, als das Stück erschien, hat jede Bühne dieser Welt, die etwas auf sich hält, sie mehrfach und in verschiedenen Zeiten aufgeführt. In jeder Epoche wurde dieses wahrscheinlich bekannteste und beliebteste Drama William Shakespeares auf eigene Weise rezipiert und dargestellt. Wie also soll die Geschichte der tragischen Liebe zweier junger Menschen heute erzählt werden?
Der Regisseur Yuri Kordonsky, der in den USA lebt und am Yale School of Drama New Haven unterrichtet, hat seit 2001 mehrfach mit großem Erfolg an rumänischen Bühnen inszeniert. Er ist vor allem dem Bukarester Bulandra-Theater verbunden, hat aber auch am Nationaltheater Bukarest, am Radu-Stanca-Theater Hermannstadt und am Deutschen Staatstheater Temeswar (DSTT) inszeniert.
Für seine jüngste DSTT-Produktion (Gabriel García Márquez’ „Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter“, 2017) wurde er in diesem Jahr vom Rumänischen Theaterverband UNITER als bester Regisseur ausgezeichnet. Entsprechend groß waren die Erwartungen an seine Lesart des Shakespeare-Klassikers, anno 2018.
Die Bukarester Produktion spielt in den Vororten dieser Welt, in einem zeitlos-leeren, unstrukturierten, entmenschlichten Raum, teils Gerüstfragment, teils verwahrloste Halle (Bühnenbild: Dragoș Buhagiar). In dieser unfreundlichen Umgebung kollidieren die Gangs unserer Zeit, die in der Konfrontation den Sinn eines perspektivlosen Lebens sehen. Rohe Gewalt bleibt die einzige Lösung für aus der Luft gegriffene Konflikte, die wie ein Sog in kürzester Zeit alle erfasst – Jung und Alt, Männer und Frauen (beeindruckende Choreografie von Florin Fieroiu und ein sagenhafter physischer Kraftakt aller Beteiligten).
In diese Welt wird der Zuschauer sofort hineingezogen, wobei sich ein Gefühl der Beklommenheit und Unentrinnbarkeit einstellt. Die Lautstärke der Aufführung ist hoch, zum Kampf gibt es den dazu passenden musikalischen Soundtrack, der den Eindruck der Reiz-überflutung verstärkt. Das Fest im Hause Capulet wird zu einer wirren Travestie-Show, bei der zu Lady Gagas „Bad Romance“ getanzt und geflirtet wird. Und selbstverständlich werden Selfies gemacht.
In diesem Umfeld voller Gewalt flüchtet der Mensch in den Alkohol- und Drogen-Exzess, enthumanisiert sich. Hat in einer solchen Welt die Liebe eine Chance? Die Szene der Begegnung von Romeo und Julia, in der für einen Moment Ruhe eintritt, gerät schematisch. Die Liebe hat es in einer derart brutalen Welt sichtlich schwer, sie ringt um Authentizität. Die Fähigkeit des Liebenden, den Gefühlen Echtheit zu verleihen, steht im Zweifel.
Pater Lorenzo (gewohnt souverän und authentisch: Răzvan Vasilescu) erscheint angesichts der Lage ebenfalls eher machtlos. Mehr Kumpel und Beobachter als Mönch hat er kaum noch eine Autorität, vermag nicht mehr zu schlichten.
Selbst die letzte Szene des Stücks, in der die beiden Liebenden sterbend ihre Gefühle füreinander noch einmal aufleben lassen wollen, gerät zur Farce. Tragik ist nicht mehr möglich, da selbst angesichts des nahenden Todes gealbert wird: die Stimmen werden durch Heliuminhalation aus den Ballons, die von der letzten Party übrig geblieben sind, verstellt. Zu guter Letzt, vor dem letzten Atemzug, wird noch ein Selfie gemacht.
Die Inszenierung schildert eine Welt voller Gewalt und Tabubrüche, in der Konflikte die treibende Kraft sind und am Limit gelebt wird. Echtheit von Emotionen und Empathie sind kaum noch möglich. Idealisten wie Romeo, der zu Beginn zu moderieren versucht, scheitern und werden letztendlich selbst zu Mördern. Frauen geraten ebenfalls in den Strudel der Gewalt und erhalten männliche Attribute: Tybalt wird durch eine Frau besetzt (eine starke Leistung von Florentina Tilea). Eine verstörende Erfahrung, eine bittere Diagnose unserer Zeit.