In Schillers Ode „An die Freude“, die Ludwig van Beethoven im letzten Satz seiner 9. Sinfonie vertont hat, finden sich die berühmten Verse „Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein, wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein!“ Es scheint, als sei die einzige Oper Beethovens „Fidelio“, die auf dem Libretto „Léonore ou L’Amour conjugale“ (Leonore oder Die eheliche Liebe) des französischen Dramatikers Jean-Nicolas Bouilly basiert, ganz aus diesen Zeilen Schillers heraus entfaltet, denn Fidelio, der als Mann verkleidet in das finstere Verlies eines unterirdischen Kerkers hinabsteigt, um den Gefangenen Florestan zu retten, entpuppt sich dort als dessen Ehefrau Leonore. Nicht von ungefähr zitiert die deutsche Fassung des Opernlibrettos, die aus den Federn Joseph Sonnleithners und Friedrich Treitschkes stammt, die Schillerschen Verse im Schlussjubel des Chors in der letzten Szene der Oper: „Wer ein holdes Weib errungen, stimm’ in unsern Jubel ein!“ Gattenliebe wird hier überwölbt von Freundestreue, Mut des Gefährten und Hingabe der Ehefrau fließen zusammen im Triumph der Treue, der, wie in Schillers Ballade „Die Bürgschaft“, auch in der Oper „Fidelio“ von einem Happy End begleitet wird.
Im Stuttgarter Großen Haus hatte am 25. Oktober Beethovens „Fidelio“ in der Neuinszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito Premiere. Auch in der ersten Aufführung danach, am 30. Oktober, war noch ein wenig Premierenatmosphäre zu spüren, exorbitanter Jubel, in den sich aber auch einige Buhrufe mischten. Das Bühnenbild der Stuttgarter Neuinszenierung stammte von Bert Neumann, der vor wenigen Monaten im Alter von nur 54 Jahren überraschend verstorben war. Wie schon im Bühnenbild zur letztjährigen Stuttgarter Neuinszenierung der Wagneroper „Tristan und Isolde“, so stellte Neumann auch in der szenischen Raumgestaltung von „Fidelio“ den Gedanken der totalen Überwachung ins Zentrum seiner künstlerischen Überlegungen. Ein dunkler Quader mit Sehschlitzen dominiert in der „Fidelio“-Inszenierung die Bühnenmitte, und überall hängen Mikrofone von oben herab, die jede stimmliche Regung, jeden feinen Atemzug, jedes auch noch so kleine Geräusch ins Unüberhörbare verstärken.
Jossi Wieler und Sergio Morabito haben diesen Gedanken dramaturgisch aufgegriffen, indem sie, entgegen gängiger Praxis, die langen gesprochenen Passagen der Oper, die aus der Tradition des Singspiels stammen – man denke etwa an Mozarts „Zauberflöte“ –, nicht gestrichen, gekürzt oder ersetzt haben, sondern sie in voller Länge auf der Bühne erklingen ließen, aber eben nicht in pathetischer und kammersängerisch volltönender Diktion, ebenso wenig in emotivem und schauspielerisch partizipierendem Sprechen, sondern wie beiläufig und gleichsam unbeteiligt, als wäre man sich permanent dessen bewusst, dass auch diese für wenige Ohren bestimmten Worte zugleich von vielen gehört werden. Vergliche man diese Art des Sprechens, die ohne technische Unterstützung durch eine ubiquitäre Mikrofonie natürlich undenkbar wäre, mit einem Streichersatz, dann geschähe die Formung aller Sprachklänge mutatis mutandis unison, äquidistant, bar jeder Dynamik und gänzlich ohne Vibrato – mit einem interessanten, neuen, irritierenden, bislang ungehörten, zugleich unerhörten Effekt, auch wenn diese Form des Sprechens von den Sängern nicht immer und nicht konsequent durchgehalten wurde, wobei die Muttersprachlichkeit einzelner Solisten für diese Art des künstlerischen Sprechens nicht per se einen Vorteil bedeutete.
Die langen Sprechpassagen schufen zugleich immer wieder eine neue Disposition des Hörens, sie bereiteten das Ohr jeweils neu für frische sängerische Hörgenüsse vor, in der Art etwa, wie man bei einer Parfümprobe zwischendurch in frisch gemahlenen Kaffee riecht oder bei einer Weinprobe zwischen den einzelnen Weinsorten Brot kostet. Besonders genussvoll waren die Übergange von den Sprechpassagen zu den einzelnen Gesangsnummern, insbesondere wenn diese vom Komponisten musikalisch eigens gestaltet wurden, so etwa im vierten Auftritt des ersten Aktes, wenn der Kerkermeister Rocco mit der an Fidelio gerichteten Frage „Meinst du, ich könnte dir nicht ins Herz sehen?“, begleitet von wunderbaren Pizzicati der Streicher, überleitet zu einem herrlichen Quartett, in dem Rocco und seine Tochter Marzelline die Liebe zu Fidelio bejubeln, während dieser selbst und sein vermeintlicher Rivale Jaquino jene beklagen.
Der Simultangesang in diesem Kanon kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier keine Harmonie waltet, genauso wenig wie im Quartett Pizarro-Florestan-Leonore-Rocco im dritten Aufzug des zweiten Aktes, wo textliche Dissonanz und musikalische Harmonie noch stärker divergieren, sinnbildhaft in den klanglich harmonischen, aber inhaltlich einander widersprechenden Reimwörtern Mut, Blut und Wut.
Wie gewohnt waren die Stimmen der Stuttgarter Gesangssolisten auch im „Fidelio“ durchweg ein Genuss, angefangen vom kräftigen, raumfüllenden Sopran Rebecca von Lipinskis (Fidelio/Leonore) über den warmen, sensiblen Bass Roland Brachts (Rocco), den leidenschaftlichen, energischen Bariton Michael Ebbeckes (Don Pizarro) bis hin zum hörenswerten Sopran Josefin Feilers (Marzelline), die auch schauspielerisch sowie in den nur gesprochenen Passagen beeindruckte. Der von Johannes Knecht einstudierte Chor bestach durch seinen Gesang, weniger durch seine Bühnenpräsenz, deren gelegentliche choreografische Mätzchenhaftigkeit er aber nicht zu verantworten hatte. Der Dirigent Sylvain Cambreling sorgte für einen ausgewogenen und einheitlichen musikalischen Gesamteindruck und wurde deshalb auch beim lange anhaltenden Schlussapplaus besonders gewürdigt.
Wie bei allen Regietheateraufführungen konnte man sich auch beim Stuttgarter „Fidelio“ verschiedenster Dinge erfreuen: der hübschen gelben Kostüme, der auf der Bühne präsentierten Schuhe nebst Sohlen (einer Mischung aus antikem Kothurn und japanischen Geta), der Hollywoodschaukel, der Wäscheleine mit Socken, deren einer zwischendurch auch die Schulter eines Sängers zieren durfte, des Paketförderbandes, des Packbandhandabrollers, der, weil kein Low-Noise-Modell, immer wieder für hübsche Begleitmusik sorgte (insbesondere in den mikrofongestützten Momenten) und so weiter und so fort. Musik und Sprache, gesprochene wie gesungene, standen aber immer im Mittelpunkt der „Fidelio“-Inszenierung, und angesichts dessen freundete man sich in Stuttgart auch mit den bühnenbildnerischen Verrätselungen der Opernhandlung an, die im „Fidelio“ darin gipfelte, dass sich der besagte dunkle Überwachungsquader am Ende tatsächlich öffnete und den Blick auf eine Shreddermaschine freigab, die Akten in Schnipsel, Papierstücke in Papierstückchen verwandelte. Die Vernichtung durch Überwachung kulminierte am Ende also in einer Überwachung durch Vernichtung und machte dadurch die Totalüberwachung sinnfällig final komplett.