„Den Luftalarm um 10.30 Uhr am 2. März verbringen meine Kolleginnen und ich im Keller der alten Residenz der bukowinischen Metropoliten für die Ukraine und Dalmatien“, schreibt Oxana Matytschuk am 4. März in ihrem „Ukrainischen Tagebuch“ in der Süddeutschen Zeitung. Ein Meisterwerk des tschechischen Architekten Josef Hlávka ist diese Hauptsehenswürdigkeit der Stadt Czernowitz/Cernăuți, seit 2011 UNESCO-Welterbe, heute Sitz der Jurij-Fedkowytsch Universität. „Eine der Fragen, die uns während dieser halben Stunde bis zur Entwarnung beschäftigen, ist, ob die Russen die Residenz beschießen würden.“
Als Kontrast dazu mein Czernowitz: Knapp sechs Jahre ist es her und nur ein Tagesausflug. Ein lauer Sommertag: Spaziergang auf der Flaniermeile. Ein Wurf Kätzchen in einem Hauseingang. Eine blassrosa Kathedrale. Eine Frau sitzt im Rinnstein und zeichnet. Die Attrappe einer Kutsche, in der man sich fotografieren lassen kann; wir tun es alle. Gedenktafeln, Kopfsteinpflaster, Stöckelschuhe. Schicke Läden und Cafes hinter altehrwürdigen Fassaden. Deutsches Haus, Manikürsalon, Judenmuseum, Eminescuschule, Coca-Cola. Schmale Wendeltreppe auf den Rathausturm, Panoramablick. Sich nicht sattsehen können. Irgendwo am Horizont die Universität...
Dort, statt jeansbehosten Studententrauben: Hochzeitspaare, die weißen Limousinen entsteigen, Schneewittchenbräute lassen sich mit Friedenstäubchen knipsen. Dahinter das Gefolge aus prachtvoll gekleideten Damen. Seidenstoffe knistern. Sonnenstrahlen brechen sich in schmalen Kirchenfenstern. Das düstere Innere steht in mystischem Gegensatz zu dem frischen Backsteinrot der Ziegelmauern, den zinnenbewehrten Türmchen, den sattgrünen Hecken, den prachtvollen Farben in einer überbordenden Architektur.
Der Komplex trinkt uns in sich hinein. Wir atmen Ewigkeit. Wie ein Fußabdruck in feuchtem Lehm sinken die Bilder vor meinem inneren Auge ein: Die Leuchtkraft. Die Pracht. Die Eleganz. Weltkulturerbe eben! Sie erheben Anspruch auf Unsterblichkeit. Mein Geist streift seitdem jederzeit leichtfüßig zwischen den Säulen hindurch, defiliert unter geschnitzten Kassettendecken, roten Kuppeln und Baldachinen, vorbei an verschlungenen Arabesken, farbentrunken, lichtersatt, treppauf, treppab. Fulminantes Kopfkino, das nie mehr verblasst. Verblassen kann höchstens die Wirklichkeit.
Meine Wirklichkeit: Die Bilder die in mir nachwirken. Sie sind mir näher als die Realität da draußen: Der nie gehörte Fliegeralarm, die nie gesehenen Bombenexplosionen, die Füße, die nie fliehen mussten, die nie in den Keller eilten wie die von Oxana, Zuflucht suchend unter der Residenz der alten Metropoliten. In der tröstlichen Vergangenheit, die wie eine weiche Bettdecke vor dem bedrohlichen Heute schützt.
Bis vor Kurzem war Krieg für mich: Vergangenheit, Erinnern, Gedenken. Abhaken. Die Welt hat sich seither gedreht. Jetzt liegt eine andere Zukunft oben, während sich die alte, bunte globale Wirklichkeit langsam nach innen stülpt, sich in mein Innerstes hineinzieht, verinnerlicht, fest aufrollt in mir, eine winzige leuchtende Kapsel im Dunkel dieser neuen Zeit. In der Abenddämmerung nähert sich der Krieg mit Riesenschritten der Grenze. Schon kann ich sie hören, die pfeifenden Geschosse, die Einschläge, das splitternde Glas, den zusammensinkenden Schuttberg. Noch trennt mich das dünne Fenster des Fernsehgeräts von der neuen Realität. Wie lange noch?
Und wird mein inneres Czernowitz dann überleben? Oder wird sich ein anderes, hässlich und grau, vor tränenverschleierte Augen schieben, den Erinnerungsfilm zerkratzen, verstauben, beflecken? Wo werden sie dann hingestorben sein, die bunten Bilder der Vergangenheit mitten in mir? Oder leben sie weiter, wie Schrödingers Katze, solange ich an sie glaube?
Eine andere überlagerte Realität: Im Roten Saal der Universität, in den Wänden der alten Metropolitenresidenz und heutigen Jurij-Fedkowytsch-Universität, wurde 2013, drei Jahre vor meinem Besuch, dem russischen Außenminister Sergej Lawrow die Ehrendoktorwürde verliehen.
„Es gab einen guten Grund dafür“, schreibt Oxana: Russland hatte die Ukraine im Nominierungsverfahren der UNESCO unterstützt, das mehrere Jahre lang dauerte. Am 21. Februar 2014 dann, nach den Erschießungen auf dem Maidan, wurde Lawrow der Titel vom Akademischen Senat wieder aberkannt... Und ich frage mich, welches innere Bild wird in ihm weiterleben? Das der Ehrung? Das der Schmach? Oder tilgt Schmach die Ehrung, löscht alle Bilder, will Erinnerungen mit Staub und Asche überschreiben? Wird das für die Nachwelt so mühevoll bewahrte Vermächtnis dem flüchtigen Stolz des Individuums -Lawrow, Putin - weichen? Würden die Russen das Weltkulturerbe beschießen? Oxana fügt an die eingangs gestellte Frage an, und man glaubt, zwischen den Zeilen spüren zu können, wie ihre Stimme trocken wird: „Inzwischen zweifelt niemand daran.“