Wahrheit macht frei. Frei vom Wahn, sich selbst und andere zu perfekten Menschen umgestalten zu wollen, von denen nichts Verwerfliches ausgehen können soll. Das Schlechte ist unzerstörbar und seit Menschengedenken Teil der Wahrheit. Überall da, wo Politik das Gute vortäuscht und Medienkanäle sich zu Propaganda-Organen umfunktionieren lassen, streckt richtig gutes Theater seine Arme, Beine, Bewegungen und Sprache nach dem aus, was in der Öffentlichkeit zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Gäbe es in der Welt kein Theater, würde den Menschen jener Spielraum fehlen, worin unverbindliches Üben im Umgang mit Traurigkeit, Ärger, Streit und Wut möglich ist. Erst das nicht verdrängte Bewusstsein für die Doppeldeutigkeit von Realität macht Wahrheit zu einem Denken, das in ehrlicher Vollständigkeit daherkommt und dem man nicht sorglos, aber doch angstfrei über den Weg trauen kann. Alles hat zwei Seiten – wo gilt dieser Spruch am allermeisten, wenn nicht für das Theater?
Für Constantin Chiriac, Intendant des Radu-Stanca-Theaters Sibiu (TNRS) und des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt (FITS), ist das Theater „die Bühne der Wahrheit“. Ein Suchender, der Mitarbeitende bis über ihre äußerste Belastbarkeit hinaus mit Arbeitsaufträgen zuschütten kann. Chiriac selbst gönnt sich wenig Auszeiten und erwartet auch von anderen, sich dem Theater auf Gedeih und Verderb unterzuordnen. Da es ihm ernst um sein Hermannstädter Terrain ist, behält das Online-Ersatzprogramm des krisengeschüttelten FITS 2020 trotz Zwangsstillstand im Kultursektor ein solides Maß Qualität bei. Die 27. Festivalauflage, deren Auftakt planmäßig am Freitag, dem 12. Juni, steigen sollte, findet tatsächlich statt. Zwar nicht wie im echten Theater mit Bühne, Akteuren, Publikum und ausverkauftem Zuschauerraum, aber dennoch auf der digitalen Heimkino-Bildfläche aller Menschen, die ohne Theater nicht satt werden können. Der Spielplan mit zwölf Stunden Sendezeit täglich ist auf dem Link www.sibfest.ro/fits-online aufgelistet. Auch an den letzten drei Festivaltagen bis einschließlich Sonntag, den 21. Juni, lohnt es sich, darin zu stöbern. Es geschieht virtuell, kostenlos und ohne jede terminliche Überschneidung zweier oder mehrerer Angebote. Aber Achtung auf Pünktlichkeit beim Zuschauen, denn die meisten Sendungen sind nachträglich nicht im gratis-Archiv des FITS zu finden.
„Körper“ von Choreografin Sasha Waltz (Jahrgang 1963) für 13 Tänzerinnen und Tänzer wurde im Januar 2000 auf der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz uraufgeführt und noch im selben Jahr von Jörg Jeshel und Brigitte Kramer als Theaterfilm für die öffentlich-rechtlichen Fernsehkanäle ARTE und ZDF aufgezeichnet. Die zeitgenössischen Bewegungsmuster zu Musik von Hans Peter Kuhn vor einem Bühnenbild in dunkel-schlichten Farbtönen sind 20 Jahre alt, erzählerisch aber kein bisschen aus der Zeit gefallen. Noch im Dezember 2019 hat die Koproduktion der Schaubühne Berlin und des Théâtre de la Ville Paris live im Palais des Festivals et des Congrčs Cannes gastiert. Sasha Waltz lässt alle dreizehn Tanzprofis beiderlei Geschlechts in teils vollständiger Nacktheit einander nach rechts, nach links sowie nach oben und unten ziehen. In nur einer Stunde Spieldauer stellen die gestählten Körper Fliehkräfte dar, die dem menschlichen Dasein im dritten Jahrtausend auf die Pelle rücken.
Der „Körper“, mit knappen Sprachsequenzen von Dramaturg Jochen Sandig gepaart, leiht der Seele ein Ausdrucksventil: „Wir müssen Krankheit, Schmerz, Tod und all diese Aspekte auch in der digitalen Welt thematisieren. Wir können nicht immer nur das Schöne und den Glanz behandeln, weil da immer mehr eine Schlucht entsteht – vor allem für die junge Generation, die nur noch diese perfekte Welt sieht. Ich mache mir darüber durchaus Sorgen und denke, dass wir als Künstler, die mit dem Körper arbeiten, auch eine Verantwortung haben, den Menschen die Wahrnehmung des Eigenen nochmal ganz anders nahezubringen, und sei es auch nur für eine oder anderthalb Stunden!“, so Sasha Waltz vor drei Jahren in einem Interview für 3sat. Beispielhaft die Szene eines wortlos in die Filmkamera blickenden Tänzers, dessen Kopf von den Händen eines Kollegen ruckartig von Position zu Position gedreht wird, während weitere Tänzer kleine weiße Teller in Turmformation vor seinen Oberkörper halten und sie zu jeder einzelnen Kopfdrehung des Probanden laut klirrend aus ihrer senkrechten Anordnung wegreißen, womit klar die Wirbelsäule gemeint ist. Beim Ensemble Sasha Waltz & Guests beginnt der Dreh- und Angelpunkt von Skelett und Nervensystem warnend zu sprechen.
„S“ und „noBody“ folgten Februar und November 2000 auf die Premiere von „Körper“ und ergänzen eine Trilogie, die der äußeren Hülle des Menschen mit dem scharf zugeschnittenen Stempel der von innen aufwühlenden Moderne droht. Für Sasha Waltz ist der Körper „das Gefäß des Lebens“. Freundlicherweise hat das FITS 2020 den ersten Film des Zyklus ausgestrahlt. Wer die Bilder in seine Bibliothek stellen möchte und neugierig auf die Fortsetzung ist, kann beim Label Arthaus Musik das DVD-Set der Körper-Trilogie bestellen.
Die Premiere ihres Projektes „Symphony 2020“ musste Sasha Waltz auf 2021 verschieben. Wird es irgendwann wieder möglich sein, Vorstellungen wie „Körper“ zu spielen? Welche Aufführungen von Tanz und Theater wird man nur noch als dokumentarische Aufzeichnungen, nicht mehr aber als lebendige Inszenierung verfolgen können, weil die Welt ihre geldlichen Prioritäten bald neu ordnen könnte? „Ich glaube schon, dass wir gezwungen sein werden, anders zu produzieren“, resümiert Sasha Waltz in einem Fernsehinterview für ARTE.