2024 – ein Jahr, in dem die Zeitungen häufig damit beschäftigt sind, die vielen Veranstaltungen und Neuerscheinungen zu Kafkas 100. Todesjahr und Kants 300. Geburtsjahr zu feiern und zu besprechen. Und dazu auch noch mit einer dritten Gedenkinitiative, nämlich dem 150. Geburtsjahr Hugo von Hofmanns-thals. Der 1874 geborene österreichische Schriftsteller gehört zu den Hauptvertretern der Wiener Moderne – und es ist zumindest zu hoffen, dass jeder Germanistikstudent innerhalb oder außerhalb des deutschsprachigen Raums den Namen des „Chandos-Briefs“ aus dem Studium kennt. Aber mit Kant und Kafka um Anerkennung zu kämpfen, ist nicht leicht; umso schätzenswerter sind dann die Versuche seitens der ausländischen Germanistik, dieses einigermaßen asymmetrische Verhältnis zu berichtigen und die Aufmerksamkeit auf die Figur und Werke Hofmannsthals zu lenken.
Eine gute Gelegenheit dafür ergab sich am 15. Mai durch die Vermittlung des Österreichischen Kulturforums Bukarest, geleitet von Direktor Leopold Unger auf Initiative von Prof. Dr. Mariana-Virginia L˛z˛rescu, der Leiterin der Österreich-Bibliothek Bukarest, die der Fakultät für Fremdsprachen an der Universität Bukarest angegliedert ist und seit dem 30-jährigen Bestehen der Bibliothek den Namen „Hugo von Hofmannsthal“ trägt. An diesem Tag hat der weltweit anerkannte Germanist Prof. Dr. Norbert Christian Wolf von der Universität Wien einen Online-Vortrag über Hugo von Hofmannsthal mit dem Titel „Ungleichzeitige Sinnsuchen: Hofmannsthals ‚Chandos-Brief‘ und ‚Jedermann‘ als prekäre Dokumente der Wiener Moderne“ gehalten. Ein durchaus naheliegendes Thema für einen geisteswissenschaftlichen Experten, zu dessen Forschungsinteressen die Literatur der Wiener Moderne (mit Schwerpunkt auf Robert Musil) gehört und der vor zehn Jahren eine wegweisende Arbeit zu Hofmannsthals Gründung der Salzburger Festspiele verfasst hat.
Nach einer kurzen Einführung des Gastes durch Prof. Dr. Mariana L˛z˛rescu stellte Prof. Dr. Norbert Christian Wolf im Rahmen seines Vortrags die These auf, dass der „Chandos-Brief“ und „Jedermann“ eine kritische Auseinandersetzung mit dem Lebenswandel der Wiener Moderne enthalten, die sich nicht auf die bloße Feststellung einer Verfalls- und Verlustdiagnose beschränkt. Vielmehr habe Hofmannsthal durch diese beiden Schriften (und nicht nur durch diese) versucht, alternative Sinnangebote zu formulieren, die in mancherlei Hinsicht auch rückwärtsgewandte, konservative Tendenzen des österreichischen Autors aufscheinen lassen.
Entsprechend wird im „Chandos-Brief“ der drohende Nihilismus der Sprachkrise bzw. der Verlust der sakralen Korrespondenz zwischen Sprache und Wirklichkeit durch eine Regression ins mythische Denken archaischer Völker konterkariert – hierbei konnte sich Hofmannsthal wohl auf das Werk des bekannten französischen Gelehrten Lucien Lévy-Bruhl stützen. Anders ausgedrückt: Der von der Sprachkrise ergriffene Lord Chandos überwindet seine Unfähigkeit, sich kohärent auszudrücken, durch die gefühlte Verschmelzung von Subjekt und Objekt bzw. durch die in bestimmten guten Augenblicken gefühlte Einheit mit verschiedenen Gegenständen.
Demgegenüber bietet „Jedermann“ angesichts des unterschiedlichen Themas eine andere Lösung. Kritisiert wird dort die Überbetonung der individuellen Freiheit auf ökonomischer Ebene, die den Protagonisten zum rücksichtslosen Verhalten gegenüber den Mitmenschen in seiner Nähe führt – Jedermanns Freiheit ist das Ergebnis seines Reichtums, der ihm erlaubt, über andere Menschen Macht auszuüben. Die in Anlehnung an den berühmten Soziologen Georg Simmel dargestellte Entpersonalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen durch das Geld, das im kapitalistischen Paradigma vom absoluten Mittel zum absoluten Zweck schlechthin mutiert ist, bildet somit den Kern des Dramas. Erst als er an die Kürze seines Lebens gemahnt wird und sich auf seinen herannahenden Tod einstellen muss, wendet sich Jedermann Gott zu – und wird gerettet. Die Warnung vor der Vergänglichkeit irdischen Reichtums und vor der Vernachlässigung konkreter Lebensbedingungen infolge der entindividualisierenden Auswirkungen abstrakter Geldwirtschaft werden demnach mithilfe christlicher Werte bzw. durch Reue der Sünden und Hinwendung zu Gott bekämpft. Angesichts der Allmacht des Geldes im modernen Zeitalter mag diese konservative Rückbesinnung auf religiöse Werte qua alternatives Sinnangebot nicht ohne Weiteres überzeugen – letztlich ist sie durch die traditionelle Gattung des morality play bedingt, zu der die spätmittelalterlichen „Everyman“-Spiele gehören.
Die obigen Bemerkungen von Prof. Wolf beschränken sich freilich auf den Kontext, in dem Hofmannsthal gelebt hat – aber im Kontext eines Hofmannsthal-Jubiläums haben sie ein anderes Gewicht. Denn wie bei jedem großen Klassiker werfen auch Hofmannsthals Texte die Frage auf, inwieweit sie heute noch aktuell sind. Die Krise der Religion vor dem Hintergrund des materiellen Fortschritts und der stark angestiegenen Lebenserwartung sowie der exzessive Individualismus, der durch den (mittlerweile neoliberal besetzten) Kapitalismus vorangetrieben wird, stellen jedenfalls zeitgenössische Probleme dar, die eine Auseinandersetzung mit Hofmannsthals Schriften rechtfertigen können. Man mag mit den darin abgezeichneten Lösungen (die Überbewertung der Rolle der Religion, des regressiv-mythischen Denkens oder der Kunst) nicht – oder nicht unbedingt – einverstanden sein. Als literarische Zeugnisse der allgemeinen Suche des Menschen nach Sinn dürfen indessen die Dramen und theoretischen Texte des österreichischen Schriftstellers zum Nachdenken über zeitgenössische Probleme weiterhin anregen. Auf in- und ausländische Germanisten darf das vermutlich zutreffen; und zwar auch über das Jubiläumsjahr 2024 hinaus.