Am Abend des 20. Januar fand im Großen Saal des Rumänischen Rundfunks ein Konzert statt, das dem Gedenken an den großen rumänischen Geiger Ion Voicu gewidmet war, dessen Tod sich am 24. Februar dieses Jahres zum zwanzigsten Male jährt. Der Dirigent dieses besonderen Konzertabends war der Sohn Ion Voicus, M˛d˛lin Voicu, der das Radioorchester leitete. Der Solist des Abends war Alexandru Tomescu, der die Stradivarius „Elder-Voicu“ spielte, die einst im Besitz des 1923 in Bukarest geborenen Violinisten und Enescu-Schülers Ion Voicu gewesen war.
Ion Voicu hatte, nach Abschluss seines Musikstudiums an der Königlichen Musikakademie in Bukarest im Jahre 1940, seine Karriere als Geiger im Nationalen Rundfunkorchester Rumäniens begonnen, dessen Solist er dann bald wurde. Beim Yehudi Menuhin-Musikwettbewerb, der 1946 in Bukarest stattfand, errang er den ersten Preis. Er zählte George Enescu und David Oistrach zu seinen Lehrern. In den fünfzig Jahren seiner Solistenkarriere konzertierte auf den ersten Bühnen der Welt, rumänische und internationale Komponisten schufen Werke für ihn, unzählige Tonaufnahmen geben Zeugnis von Ion Voicus künstlerischer Größe.
Im Jahre 1956 erwarb der rumänische Staat für den großen Violinvirtuosen eine Stradivari-Geige aus dem Jahre 1702, die bereits der Mendelssohn-Protegé und Brahms-Freund Joseph Joachim gespielt hatte. Nach dem Tod Ion Voicus blieb dessen Stradivarius zehn Jahre lang ungehört, bis sie im Jahre 2007 nach einem Wettbewerb seitens des rumänischen Staates dem Violinisten Alexandru Tomescu zum Gebrauch überantwortet wurde, der die seitdem so genannte Stradivarius „Elder-Voicu“ bis heute mit großem Erfolg spielt.
Das Programm des Gedenkkonzertes umfasste drei Werke: die Ouvertüre zu Gio-achino Rossinis letzter Oper „Wilhelm Tell“, Wolfgang Amadeus Mozarts fünftes Violinkonzert in A-Dur (KV 219) und Felix Mendelssohn-Bartholdys vierte Sinfonie in A-Dur (op. 90), die sogenannte „Italienische“. Der Kontrast von Norden und Süden war also das Leitmotiv des Konzertabends: ein italienischer Komponist, der sich des von Friedrich Schiller beschworenen Freiheitskampfes der Schweizer in den nördlichen Alpen annimmt, ein deutscher Komponist, der in der nördlichen Heimat seine südländischen Reiseerfahrungen sinfonisch verarbeitet, und ein österreichischer Komponist, der den musikalischen Kontrast zu seiner Heimatstadt am Nordrand der Alpen im südlichen Orient sucht. Nicht von ungefähr erhielt Mozarts fünftes Violinkonzert den Beinamen „Das Türkische“.
Bereits im ersten Stück des Konzertabends, der Ouvertüre zu Rossinis Oper „Wilhelm Tell“, ließ das Nationale Orchester des Rumänischen Rundfunks sein stupendes Können aufblitzen. Schon der Beginn der Ouvertüre, den der Dirigent ganz der musikalischen Eingebung der tiefen Streicher anheimgab, ließ eine reine und unberührte Klangwelt erstehen, mit der der Komponist die Schweizer Alpen musikalisch zu evozieren gedachte. Die hohe Note des Solocellos, die den Anfangsteil der Ouvertüre beschloss, war gleichsam das Gipfelkreuz auf dieser musikalischen Gebirgswanderung. Die hohen Streicher, aber auch die verschiedenen Bläsergruppen, waren besonders im zweiten Teil der Ouvertüre gefordert, wo die schnell dahinjagenden Passagen, die programmmusikalisch den Sturm versinnbildlichen, zu höchst akkurater Spielweise nötigten. Wunderbar, das Wehen der Sturmböen durch die einzelnen Streichergruppen zu verfolgen, bis am Ende dieses zweiten Teils allein noch die Flöte erklang. Der unmittelbar daran anschließende pastoral anmutende sogenannte Kuhreihen brachte neben der Flöte auch das Englischhorn und die Triangel ins Spiel, die gemeinsam eine Melodie intonierten, die in Rossinis letzter Oper ein Leitmotiv darstellt. Der galoppartige Marsch der Schweizer Soldaten, der zu den meistzitierten Melodien der klassischen Musik gehört, beschloss die Ouvertüre zu „Wilhelm Tell“ in der exzellenten Interpretation des Rumänischen Rundfunkorchesters unter M˛d˛lin Voicu.
Im Zentrum des Gedenkkonzertes für Ion Voicu im Bukarester Mihail-Jora-Saal stand das Mozartsche Violinkonzert in A-Dur (KV 219), das von Alexandru Tomescu interpretiert wurde. Das dreisätzige Violinkonzert ist in sich faktisch noch viel stärker differenziert und gibt dem Solisten viel Raum zur Entfaltung eigener Ideen im Hinblick auf Dynamik, Tempi und Überleitungen zwischen den einzelnen musikalisch locker verbundenen Teilen der drei Sätze. So unterbricht etwa im Kopfsatz ein Adagio der Solovioline das vom Tutti angestimmte Allegro aperto, um dieses unmittelbar im Anschluss daran mit dem Hauptthema frisch wieder aufzunehmen. Tomescu brachte die dynamischen Differenzierungen der einzelnen Teile des Kopfsatzes nicht nur durch seine Spielweise zum Ausdruck, sondern auch durch seine gelegentliche Hinwendung zum Orchester, um sich im richtigen Moment wieder den Zuhörern zuzudrehen und so den musikalisch-dynamischen Wechsel auch gestisch zu unterstreichen. Besonders in den Kadenzen wie auch in den kleineren Überleitungen bewies Tomescu seine Virtuosität und seine musikalische Erfindungsgabe, die auch dem Dirigenten hin und wieder ein Schmunzeln abnötigte. Ja, man hatte manches Mal den Eindruck, als erfinde Tomescu seine Überleitungen jeweils neu und überrasche das Orchester immer wieder mit der musikalischen Frage, wann es denn nun einzusetzen habe. Nach dem wunderbaren Adagio mit einer erneuten Kadenz klang das Konzert mit dem Finalsatz, einem Rondo im Tempo di Minuetto, aus, nicht ohne die türkischen Elemente, die man bei Mozart auch in der „Entführung aus dem Serail“ oder in seiner elften Klaviersonate findet, deutlich hörbar gemacht zu haben.
Nach dem lebhaften Applaus für die Darbietung des Mozartschen Solokonzertes wurde den Zuhörern ein besonderes Erlebnis zuteil. Es betrat nämlich, neben dem Solisten und dem Dirigenten, eine weitere Sologeigerin die Bühne, die gemeinsam mit Alexandru Tomescu und dem Radioorchester unter Mădălin Voicu den ersten Satz des Bachschen Doppelkonzertes für zwei Violinen in d-Moll (BWV 1043) interpretierte. Diese Zugabe war ganz dem Andenken an Ion Voicu gewidmet und versammelte nicht nur den Sohn Mădălin als Dirigenten und dessen Tochter, Ion Voicus Enkelin Ioana, als Solistin auf der Bühne des Mihail-Jora-Saales, sondern auch die beiden Instrumente des solchermaßen im Gedächtnis Bewahrten und in Erinnerung Gebrachten: die von Alexandru Tomescu gespielte Stradivarius „Elder-Voicu“ sowie die von Ioana Voicu gespielte Meistergeige, die Ion Voicu vor dem Erwerb der nach ihm benannten Stradivarius in seinen Konzerten zum Klingen gebracht hatte. Nach diesem denkwürdigen Moment kehrte Alexandru Tomescu alleine nochmals auf die Bühne zurück, um das Publikum mit dem Schlusssatz aus der Partita Nr. 3 für Violine solo von Johann Sebastian Bach (BWV 1006), einer Gigue, zu beschenken und sich zugleich für den rauschenden Applaus und die Bravorufe zu bedanken.
Das Gedenkkonzert klang dann in seinem zweiten Teil mit der lebhaft dargebotenen Italienischen Sinfonie von Felix Mendelssohn-Bartholdy aus, die ihrerseits eine Hommage an den deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe darstellt. Mendelssohn war noch zu Lebzeiten Goethes mit dessen „Italienischer Reise“ als Reiseführer im Gepäck nach Italien aufgebrochen, und der zweite Satz von Mendelssohns „Italienischer“ zitiert die Zeltersche Vertonung der Goethe-Ballade „Es war ein König in Thule“ und gedenkt damit gleichzeitig des Todes Goethes und seines Freundes Carl Friedrich Zelter, die beide 1832 in Deutschland starben, als Mendelssohn noch in Italien unterwegs war. So war das Konzert am Abend des 20. Januar im Großen Saal des Rumänischen Rundfunks in vielfacher Hinsicht dem Gedanken des Gedenkens gewidmet, indem derer gedacht wurde, deren Gedächtnis es lebendig zu bewahren gilt.