Vor fünfundsechzig Jahren begannen in Rumänien die Arbeiten am Donau-Schwarzmeer-Kanal, die von Zehntausenden von Zwangsarbeitern durchgeführt wurden: von politischen Gefangenen sowie von Angehörigen nationaler, ethnischer und religiöser Minderheiten. Mehrere Tausend Menschen kamen in den Arbeitslagern dieses danubischen Archipels Gulag zu Tode. Die Mortalitätsrate im Lager Midia beispielsweise, aus dem sich die Arbeiter am Poarta Albă-Midia-Kanal rekrutierten, lag im Winter 1952/53 bei 17 Prozent, im Gegensatz zu der ungleich geringeren Mortalitätsrate zwischen 1 Prozent und 4 Prozent in den übrigen Lagern.
Nicolae Mărgineanu wendet sich in seinem neuesten Film „Poarta Albă“ gerade jenem berüchtigten Arbeitsabschnitt am Donau-Schwarzmeer-Kanal zu, wo Gegner des kommunistischen Regimes, mehr oder weniger zufällig Denunzierte, Intellektuelle, Künstler, Angehörige der Bourgeoisie, Wissenschaftler, Studenten oder in Ungnade gefallene Mitglieder der Nomenklatura seit 1949 durch Zwangsarbeit gefoltert, gequält und erniedrigt wurden. Anregungen verdankt der Film „Poarta Albă“ dem im Humanitas Verlag erschienenen Band „Vărul Alexandru“ von Adrian Oprescu, ferner weiteren Zeitzeugnissen sowie geschichtswissenschaftlichen Quellen, die dem dokumentarischen Charakter des Spielfilms Plausibilität verleihen.
Der bis auf seine kurze Rahmenhandlung ganz in Schwarzweiß gehaltene Film verzichtet auf einen Plot im herkömmlichen Sinn – das Drehbuch stammt vom Regisseur selbst in Zusammenarbeit mit Oana Maria Cajal –, sondern zeigt die zeit-, geschichts-, ausweg- und hoffnungslose Situation der im Lager versammelten Zwangsarbeiter in ihrer ganzen lähmenden Statik und in ihrer gesamten erstickenden Unveränderbarkeit. Was zunächst wie ein spannender Thriller begonnen hatte – der gefahrvolle Versuch eines Geschwisterpaares und des Freundes der Schwester, die Donau bis zum serbischen Ufer zu durchschwimmen, um einem Land zu entkommen, das ihnen alle Lebenschancen nimmt –, endet für die beiden jungen Männer, den Studenten Adrian (Cristian Bota) und den Tischler Ninel (Sergiu Bucur), in einem Haftambiente mit permanenter Lebensgefahr und ubiquitärer Todesdrohung. Und in der Tat überlebt Ninel den Kanal-Gulag nicht: Was ihm dort geblieben ist, sind nur die ständigen Fluchtgedanken, das Foto seiner Geliebten, die ihn nach gelungener Flucht durch die Fluten der Donau nun lächelnd aus Paris grüßt, und ganz am Ende ein von ihm selbst gefertigtes Holzkreuz in der todesstarren Hand.
Trotz dieses handlungsarmen Plots entfaltet der Film „Poarta Albă“ aber dennoch nach und nach einen unwiderstehlichen Sog, dem man sich als Zuschauer schwerlich entziehen kann. Da sind zum einen die menschlichen Begegnungen unter den Häftlingen, kurze aufmunternde Worte, kleine Gesten der Solidarität, Akte der Hilfe und des Beistandes, die zu den Aktionen des eher karikiert dargestellten Wachpersonals in lebendigen Kontrast treten. Man lernt einzelne dieser Inhaftierten näher kennen, so zum Beispiel den von Bogdan Nechifor glänzend verkörperten Mönch und Priester, der Häftlingen wie Aufsehern gegenüber immer Mensch bleibt und seine Würde nie verliert, weil er das Leiden als Akt des Mutes begreift.
Unvergessliche Szenen prägen sich dem Zuschauer im Verlauf des letztlich doch nur den Alltag im Lager und bei der Arbeit zeigenden Films ein: die Nächte Adrians in der Stehzelle; die Besuchsstunde, bei der sich Frauen und Männer gegenübersitzen und sich, gestört vom zwischen ihnen flanierenden Wachpersonal, ihre Fragen und Antworten zubrüllen; die Tode durch Erschießung, Erschöpfung und Verzweiflung; die Ausbrüche von Emotionen und Gewalt, wenn etwa Adrian den Aufseher mit einer Spitzhacke bedroht; die Haftentlassung des Dichters Petre (Marius Turdeanu), der sich seine Verse unter Verwendung des Morsealphabets in den Pullover gestrickt hat; das Zwiegespräch zwischen dem Arzt (Ion Besoiu) und dem Advokaten (Eugen Cristian Motriuc); und immer wieder die Häftlingszüge zu und von der Arbeit, die sich wiederholenden Szenen in der Schlafbaracke, das ewige Steineklopfen und die gewaltsam unterdrückten Tränen.
Bewusst leistet der Film „Poarta Albă“ Verzicht auf eine Ästhetisierung des Leidens. Nur an ganz wenigen Stellen lässt der Regisseur seiner künstlerischen Imagination freien Lauf, etwa wenn die Häftlinge Schlachtreste, veritable Kuhköpfe, aus einem Güterzug laden, die offenbar zum Verzehr bestimmt sind. In der daran anschließenden Filmsequenz, die nach der Art eines Schattenspiels aufgenommen ist, tragen die Inhaftierten dann die Tiertrophäen wie heidnische Monstranzen in einer urzeitlichen Prozession, als habe sich der Minotaurus tausendköpfig aus seinem Labyrinth, das ihn gefangen hielt, befreit. Hier – und nur noch an zwei anderen Stellen des Films – erklingt Puccinis Arie „Vissi d’arte“ aus dem zweiten Akt von „Tosca“, wo die Titelheldin voller Verzweiflung singt: „In dieser Schmerzensstunde, warum, warum, o Herr, warum dankst du mir das so?“
Auch die knappe Rahmenhandlung des Films bedient sich künstlerischer Ausdrucksformen, in diesem Falle der Malerei. Gezeigt wird das Altargemälde in der Kirche der heiligen Elefterie in Bukarest, das von der Hand des rumänisch-orthodoxen Theologen und Malers Arsenie Boca stammt, der selbst am Donau-Schwarzmeer-Kanal Zwangsarbeit leisten musste. Der Jesusknabe trägt in diesem Altarbild an der Seite der Mutter Gottes unbezweifelbar Häftlingskleidung, ein Umstand, den die kommunistischen Machthaber offenbar niemals bemerkt oder inkriminiert haben. In vergleichbarer Weise endet auch die Binnenerzählung des sehenswerten Films von Nicolae Mărgineanu. Die unvermutete Gegenwart eines schlafenden Kindes im winterstarren Gulag lässt Häftlinge wie Wachhabende verstummen und sie eine andere Welt schauen: eine Welt, deren angelischer Vorschein Hoffnung atmet.