Hermannstadt – „Lass ihn kreuzigen!“ Mit nichts anderem als dem Schlachtruf des Pöbels warfen sich der Chor der Hochschule für Kirchenmusik Dresden und die seit 1961 auftretende Meißner Kantorei Samstag, am 11. April, in den Beginn ihrer Probe für das Aufführen Hans Peter Türks „Siebenbürgischer Passionsmusik für den Karfreitag nach dem Evangelisten Matthäus“ am Palmsonntagabend in der evangelischen Stadtpfarrkirche Hermannstadt/Sibiu. Und selbstverständlich taten sie es auch in den hohen Frauen- und Männerstimmen mit körperlich vollem Einsatz bis in die extremen Lagen ihrer vokalen Reichweite, an die Türks Handschrift knifflige Anforderungen stellt. Tenöre, die aus Gründen von Sicherheit und Schwierigkeit bei starker Belastung auf das Singen mit Kopfstimme ausweichen, waren während der Uraufführung am Karfreitag 2007 in den Reihen der Meißner Kantorei zu keinem Zeitpunkt zu hören gewesen – ein über alle Zweifel erhabenes Klangbild, das sich recht genau 18 Jahre nach seinem Erst-Termin wiederholte. Dem ein oder anderen Zuhörer mit lebendiger Erinnerung an die Premiere mögen sich die Nackenhaare für diesmal zwar nicht genauso oft aufgestellt haben, doch überall da, wo Hans Peter Türk zum Eindrücklichsten seiner Eingebungskraft ansetzt, waren die Gäste aus Sachsen ihrem Auftrag gestalterisch gewachsen. Aus eigenen Stücken – den Chor der Staatsphilharmonie „Transilvania“ Klausenburg/Cluj-Napoca ausgenommen – wäre Siebenbürgen wohl kaum fähig, sich Noten, Stoff und Klang dieses Meisterwerks zu erarbeiten. Umso mehr ist es ein erlesenes Präsent, seiner Musik in 52 Stationen wie gebannt lauschen zu können.
Er ging unter die Haut, der Klagegesang Marias, von Solistin Sylvia Irmen (Alt) gemeistert, und nichts vom begleitenden Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ in anstrengend niedriger Lautstärke brach der Meißner Kantorei und dem Ensemble der Dresdner Hochschule für Kirchenmusik weg: Rektor Stephan Lennig hatte am Dirigenten-Pult die Dosierung der Dynamiken verlässlich im Griff. Allein das rapide anwachsende Skandieren von „Barabbas!“ als Reaktion der gewaltlüsternen Menge auf die Frage von Pontius Pilatus nach dem zu Verschonenden hätte ein Atemholen länger dauern können, um die Chorstimmen noch enger an ihr Limit zu führen. Tadellos dafür vom ersten bis zum letzten Takt des Auftritts die Intonation, und in das Programmheft geschaut werden musste gelegentlich nur für die Orientierung am Fortgang des Konzerts; dass klangliche Sauberkeit sich bei klarer Aussprache wie von selbst einstellt, hatte schon 2007 Christfried Brödel aus Dresden als Dirigent der Uraufführung ganz oben auf die Merkliste gesetzt. Einziger Nicht-Muttersprachler war womöglich Zbigniew Stepniak als Sänger der Einwürfe von Pilatus, der mit seinem leicht abfärbenden Akzent und sicher auch dank der 1994 empfangenen Weihe zum katholischen Priester all die dunklen Nuancen der „Siebenbürgischen Passionsmusik“ nicht bloß als Bass profund zu erden vermochte. Achtung gebührt auch Tenor Michael Schaffrath, den Türks aufreibende Evangelisten-Partie des Umfangs von gefühlt zwei Oktaven nie aus der Fassung brachte. Beim Hören der Soli von Jana Büchner schließlich dürfte sich erneut der Vorzug schlanker Sopran-Timbres für das deutschsprachige Genre bestätigt haben.
Unter den vier Herren aus den Chorreihen, denen kleine solistische Rollen zufielen, schien besonders der Vorsänger der prophetischen Zitate von Jeremias seine stimmliche Bestform auszukosten, und an der Sauer-Orgel Hermannstadts sorgte Martin Strohhäcker für eine an Breite nicht zu überbietende Klangkulisse in nahezu sämtlichen Abstufungen vom Zartesten bis hin zum Mächtigsten, wogegen die Meißner Kantorei und der Chor der Hochschule für Kirchenmusik Dresden dann und wann nicht ebenbürtig anzusingen in der Lage waren. Aber die „Siebenbürgische Passionsmusik“ von Hans Peter Türk ist von ihm auch nicht komponiert worden, um es jenen, die sich an sie heranwagen, einfach zu machen. Durchdrungen werden will sie stimmlich, künstlerisch, intellektuell und abstrakt zugleich. Keine Kost für Kirchenchöre der Mittelklasse. Was einen jedoch bei Erfüllung all ihren Zaubers berührt, war am Montag der Karwoche bei gleicher Konzertbesetzung aus Sachsen auch in Klausenburg zu schätzen. So spezifisch tönt selbst Transsylvanien beileibe nicht alle Jahre.