Hermannstadt - Wo Rumäniens Superwahljahr 2024 glänzende Chancen hat, sehr laut zu werden, dürfte seiner politischen Offerte das Gegenteil überschäumend schlechter Qualität erneut abgehen. Dass die etablierten Altparteien, die faschistisch Fahrt gewinnende AUR und die liberalen Köpfe sich als jeweils konkurrenzlose Sieger auf das Treppchen stürzen wollten, wenn nur irgend machbar, steht längst außer Frage. Und in der USR räumt man ein, Kenntnis davon genommen zu haben, dass der liberale Flügel mit Platz drei Vorlieb nehmen müsste, wenn das Auszählen der Wahlzettel schon morgen anstünde. Ex-Entwicklungsminister Cristian Ghinea zufolge jedoch sind „Politik und Geschichte kein Spiel, das wie ein Fußball-Match nach 90 Minuten endet. Es ist ein Spiel, das nicht 2024 enden wird.“ Für den studierten Politikwissenschaftler, ehemaligen Journalisten der Spitzenzeitung „Dilema Veche“ und Verfasser des Nationalen Wiederaufbau- und Resilienzplans (PNRR), der sein Buch „Cine a făcut România. R˛scrucile noastre“ im anspruchsvollen Humanitas-Verlag veröffentlicht hat, ist noch dazu klar, dass zwischen der nur dem Namen nach liberalen PNL und Parteien echt liberaler Couleur nicht verwechselt werden darf. „Die eigentlich liberale während der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts war die Nationale Bauernpartei (PN})“, so Cristian Ghinea Donnerstagabend, am 5. Oktober, in der Humanitas-Buchhandlung Hermannstadt/Sibiu zur Doppelstunde seiner Buchvorstellung. Gedruckt und herausgegeben wurde es mit finanzieller Hilfe vom Projekt-Büro der bundesdeutschen und FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für Rumänien und die Republik Moldau.
Zu Unkenrufen vor einem nicht auszuschließenden Wahlfiasko im Spätherbst 2024 allerdings, wenn die Karten im Parlaments-Palast und dem ergänzenden Amts- wie Wohnsitz des Staatspräsidenten in Bukarests Viertel Cotroceni neu gemischt werden, lässt Kritiker Cristian Ghinea sich nicht hinreißen. Dazu steckt er einfach viel zu tief drin in der strengen Führungsetage der USR, die auch und besonders im jüngsten Halbjahr trotz Eigenwerbens als einzige Reformpartei Rumäniens den Austritt prominenter Kader aus ihren Reihen registrieren musste. Denn die Zeichen der Zeit will Cristian Ghinea unbedingt optimistisch gesehen haben – „1970 stand sie bei 4,8 Prozent, die Kindersterblichkeit in Rumänien, und 2022 bei 0,5 Prozent.“ Vor dem immer weiter wachsenden Spalt aber zwischen „dem extrahierenden Rumänien, das zum Scheitern führt, und dem inklusiven Rumänien“, wie Literat und Moderator Radu Vancu im Untergeschoss der Humanitas-Buchhandlung Hermannstadts die „Scheidewege“ („răscrucile“) in der Überschrift von Autor Ghinea erklärte, verschließt auch der USR-Vizevorsitzende und Minister für EU-Fördermittel unter Technokrat und Regierungschef Dacian Cioloș vor sieben Jahren nicht die Augen. „Wir haben eine gewisse Anzahl armer Menschen in Rumänien, die wegen ihrer Stimmen an der Wahlurne in der Armut festgehalten werden.“ Sein neues Buch aber sucht davon zu überzeugen, „nicht allein Opfer des Schicksals, sondern auch Akteure“ zu sein, betonte Cristian Ghinea Anfang des Monats im zentralen Hermannstadt. Enorm schwierig nur in einem Land, dem die Bipolarität der Missgunst von individualistisch oder kollektiv gebauten Gesellschaftsmassen füreinander seit historisch langer Vergangenheit inhärent ist. Das „extrahierende“ Rumänien verorten die USR und ihre Sympathisanten im „stammesartigen“ Modell, öffentliche Ressourcen korrupt zu verwalten. „Man kann kein Land mit 2000 Bojaren bestellen“, zitiert Cristian Ghinea den liberalen Vordenker Mihail Kog˛lniceanu im Rumänien des späten 19. Jahrhunderts.
„Nach 1989 haben wir unsere Fähigkeit verloren, uns für Erfolg von Mitmenschen zu freuen“, resümierte im Quartett auf dem Podium der Buchvorstellung von Cristian Ghinea in Hermannstadts bestens dafür geeignetem Lokal Dan Barna, genauso wie sein Nachbar auch USR-Vizevorsitzender. In Rumänien sei Anhäufung von Wohlstand leider häufig missverstanden worden. Und „die DACIA-Werke gibt es nach wie vor, weil sie liberalisiert wurden, die ARO-Werke aus demselben Grund nicht mehr“. Raimar Wagner, seit 2020 Leiter des Projekt-Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung für Rumänien und die Republik Moldau, ist „neugierig auf die Reaktion der AUR“ zu dem Buch von Cristian Ghinea, und hat ihm gerne Unterstützung zugesichert, weil es „einem intellektuellen Projekt“ gleichkommt, das „den Mangel an ideologischer Debatte“ aufdeckt und „der Agora Rumäniens“ nützlich ist. Alles schön und bestens, hätten Protagonist Cristian Ghinea, seine Mitredner, seine Parteikollegen in Hermannstadt und sein Fanclub die Sache im Untergeschoss der Buchhandlung nicht zwangsläufig ausschließlich untereinander zur Sprache gebracht, wenn auch unabsichtlich: wenige Monate zuvor hatte Radu Vancu den Kellerraum als „unterirdische Humanitas-Korridore“ bezeichnet. Auf Rumäniens aktuellen Scheidewegen, die auch ihre sind, schafft die USR keinen Durchbruch nach oben. Das Parteien-Establishment würde sie nur zu gerne aufmischen und radikal verändern, ihm angehören aber möchte sie auf keinen Fall.