Kein Leid ist gegen ein anderes aufzuwiegen

Flucht und Fasching hatten mehr als Anfangsbuchstaben gemeinsam

Gemütlich über ein doch ungemütliches Thema – Werner Kremm sprach „uf Schwowisch“ über die Fluchtgeschichten und den jüngsten Band, der sie umfasst, vor interessiertem Publikum. Foto: Astrid Weisz

Großsanktnikolaus – Als Forumsmitglieder und Sympathisanten aus der Temescher Kleinstadt Großsanktnikolaus/Sânnicolau Mare sich zu einer Letztfaschingsveranstaltung beim entsprechend geschmückten Sitz des Demokratischen Forums der Deutschen aus dem Ort am Sonntagnachmittag einfanden, kam fast keiner kostümiert – dafür aber mit umso größerem Interesse ob des Buches, das der Cousin der Forumsvorsitzenden Dietlinde Huhn, Werner Kremm vorzustellen mitgebracht hatte: „Die Flucht der Deutschen aus dem Banat im Herbst 1944“. F stand eben mehr für die Flucht als für das Faschingsfest.

Es dauerte nicht lange, dass sämtliche Sitzgelegenheiten in Anspruch genommen worden waren. Nach einem Blick in die Runde stand schnell zweierlei fest: Die Vorstellung konnte „uf Schwowisch“ gemacht werden und... die Mehrzahl des Publikums kam nicht aus der Stadt, sondern aus dem Umland: aus Nero/Nerău, Perjamosch/Periam, Gottlob, Triebswetter/Tomnatic, Marienfeld/Teremia Mare, Tschanad/Cenad, Lenauheim und Lovrin. Dem Lokalpatriotismus gerecht zu werden, unterstrich Dietlinde Huhn eingangs, dass zwei der Herausgeber aus Großsanktnikolaus stammen: Anton Sterbling und Werner Kremm (der dritte He-rausgeber ist Albert Bohn), während das Geleitwort zu dem Band vom Semikloscher und Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft Banater Schwaben in Deutschland Peter-Dietmar Leber stammt. Durch das Engagement und das frühe Erkennen der Notwendigkeit, auch diese Facette der Kriegs- und Nachkriegsfolgen zu beleuchten, kommt es zudem, dass rund 80 Seiten in dem Pappdeckeleinband mit Erlebnisberichten von Großsanktnikolausern gefüllt sind.

Werner Kremm stellte den Anwesenden ausführlich die Entstehung der Sammlung an Erzählberichten dar und erklärte, dass diese nun erstmalig in Rumänien vorgestellte Fassung, die November 2024 mit Unterstützung des Demokratischen Forums der Deutschen aus dem Banat in Temeswar erschienen ist, einen Zwischenstand darstelle. Bereits vor einem Jahr bei den Deutschen Literaturtagen in Reschitza hatte der He-rausgeber darauf hingewiesen, dass von dem Historiker Josef Wolf eine passende geschichtlich-faktische Einordnung der Flucht aus dem Banat 1944 als Vorwort eingefordert worden war, diese aber bis zum geplanten Veröffentlichungsdatum im Mai 2024 in Deutschland nicht fertiggestellt worden war. Zudem habe sich mit der Zeit herausgestellt, dass Wolf so umfangreich schreiben würde, dass ein eigener Band damit gefüllt werden könne. Auch habe man nach der Veröffentlichung weitere Zuschriften mit Fluchtgeschichten bekommen. Entsprechend habe man jetzt vor – auch die Finanzierung ist gesichert – heuer eine weitere Auflage des Buches in braunen Deckeln als Doppelband mit historischer Darstellung und erweiterter Fassung in Rumänien herauszugeben. Die Buchvorstellung von Kremm bewies die akribische Auseinandersetzung mit dem Konzept des Bandes von dem Buchdeckel, Chromatik und Bilder bis hin zum Aufbau und dem Inhaltsverzeichnis, der die Geschichten auch dem Herkunftsort nach ordnet. Sogar beim auszugsweise Vorlesen zweier Fluchtgeschichten, konnte es sich Kremm nicht nehmen lassen, ergänzende, erklärende, kontextualisierende und kommentierende Einschübe zu machen. Das Publikum folgte mit fast angehaltenen Atem.

Über die Deportation nach Russland wird seit den 90ern endlich gesprochen und das Thema dokumentiert; die B²r²gan-Deportation hat nicht nur die deutschsprachige Bevölkerung betroffen, so dass es auch in rumänischer Sprache Veröffentlichungen, Dokumente und Zeitzeugeninterviews gibt, nicht zuletzt durch die Bemühungen der Forscherin Smaranda Vultur in Westrumänien; doch über das Schicksal der rumäniendeutschen Kriegsflüchtlinge wurde bislang kaum umfassend berichtet, das Thema zu selten in den Fokus gerückt. Das Abwiegen, wer mehr gelitten oder verloren hat durch das eine oder das andere findet keinen Platz in der Diskussion, wenn diese auch menschlich wahrscheinlich in manchen Orten stattgefunden hat. Durch die Bemühungen von Werner Kremm, dessen Vorfahren selbst nicht deportiert, weil geflüchtet waren und die zwar der Zwangsarbeit in der Sowjetunion entkommen waren, dafür anderen Repressalien ausgesetzt wurden und ein leidvolles Schicksal ihrerseits hatten, und weiteren Mitgliedern aus der Aktionsgruppe Banat, kam nun nach dem Buch mit den Zeitzeugenberichten der Kinder ehemaliger Russlanddeportierter auch der Band über die Flüchtlinge und ihre Geschichten zustande. Der jüngeren Geschichte der Banater Schwaben und Berglanddeutschen wird somit ein weiteres Kapitel zu Buche gebracht, das noch lange darauf warten muss – wie so manches, was mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auf dem heutigen Boden Rumäniens –, in den Geschichtsbüchern und im Bewusstsein der jüngeren Generation, sei sie auch nur die deutsche, aufgenommen zu werden. Diese Zeitzeugendokumentation zeigt auf, dass die Geflüchteten bei Weitem nicht den „leichteren Weg“ genommen haben und nicht wenige von ihnen auch mit dem Leben für diesen Entschluss bezahlen mussten.

Zum Schluss sei bemerkt, dass es viele Argumente dafür gab, diesen Sammelband in Großsanktnikolaus vorzustellen, zumal der Beitrag von Großsanktnikolausern von der Initiative bis zur Ausführung beachtlich ist, der Lokalstolz nicht zu verachten, doch gebührt einem solchen Buch und der Arbeit, die dahinter steckt, eine viel größere Bühne und Aufmerksamkeit, als im Kreise der deutschen Gemeinschaft im einstigen Großsanktnikolauser Rayon oder den Literaturfreunden bei den Deutschen Literaturtagen in Reschitza – da gäbe es doch heuer die Heimattage der Banater Deutschen oder bestimmt auch die Möglichkeit einer Buchpräsentation in Großstädten wie Temeswar, Arad, Großwardein oder Hermannstadt. Überhaupt sollten Veröffentlichungen des Banater Forums zumindest in deutschsprachigen Schulen präsentiert werden, Themen besprochen werden, Autoren eingeladen werden. Die Herausgeber haben ihre Arbeit getan und tun sie auch weiter – jetzt liegt es wohl an anderen, dieses Werk und Thema ins Rampenlicht zu stellen, so wie es Dietlinde Huhn im vollen Saal des Ortsforumssitzes getan hat.

Ach ja – da war noch etwas mit F wie Fasching – der wurde bei den Großsanktnikolausern mit süßen und herzhaften Mehlspeisen und Backwaren, Kaffee, Tee und Saft nach der Signierstunde, gemütlich umgeben von Luftballons und von den Schülern der deutschen Abteilung der Nestor-Oprean-Gymnasialschule 2 gebastelten, bunten und lustigen Masken mit einem Plauderstündchen begangen. Die Kinder selbst hatten bereits tags zuvor im Nako-Schloss ausgelassen Fasching gefeiert.